Die Frühromantiker folgten der Idee des freien Ich

In ihrem Buch „Fabelhafte Rebellen“ beschreibt Andrea Wulf eine Gruppe von Frühromantikern, die in Jena lebten und die Idee des freien Ich folgten. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte postulierte: „Der Mensch soll sich selbst bestimmen und nie durch etwas fremdes sich bestimmen lassen.“ Für die etwa zehn Jahre, die der Zirkel dieser Denker ab Mitte der 1790er Jahre in Jena zusammenlebten, entwickelte sich die kleine Stadt an der Saale zum Mittelpunkt der abendländischen Philosophie. Es war zwar nur ein kurzer Augenblick im Zeitenlauf, aber der Moment, der das Denken der Menschen von Grund auf veränderte. Als Autorin wurde Andrea Wulf mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet, vor allem für ihren Weltbestseller „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ 2016, der in 27 Sprachen übersetzt wurde.

Von der Französischen Revolution bliebt niemand unberührt

Der Jenaer Kreis wollte verstehen, wie die Welt einen Sinn ergibt. Zu den fabelhaften Rebellen gehörten die Dichter Goethe, Schiller und Novalis, die Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, die genialen Schlegel-Brüder sowie der junge Wissenschaftler Alexander von Humboldt und ihre Muse, die mutige und freigeistige Caroline Schlegel. Jeder dieser bedeutenden Intellektuellen lebte ein Leben, das es wert, es in einem Buch zu beschreiben. Außergewöhnlicher als ihre individuellen Geschichten ist jedoch die Tatsache, dass sie alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammenkamen. Und deshalb als Jenaer Kreis in die Geistesgeschichte eingegangen sind.

Andrea Wulf schreibt: „Die Welt, in der die Mitlieder des Jenaer Kreises aufwuchsen, war eine Welt des Despotismus, der Ungleichheit und der Kontrolle. Doch dann, 1789, kam die Französische Revolution – ein Ereignis, das so einschneidend und dramatisch war, dass niemand in Europa davon unberührt blieb.“ Als die französischen Revolutionäre alle Menschen für gleichberechtigt erklärten, versprach das die Möglichkeit einer neuen Gesellschaftsordnung.

Die Frühromantiker haben dem Verstand Flügel verliehen

„An die Kraft der Worte soll man glauben“ erklärte der Schriftsteller Friedrich Schlegel und schwang seine Feder wie ein Schwert. Der Philosoph Fichte schrieb ein Pamphlet, in dem er betonte: „Die französische Revolution scheint mir wichtig für die gesamte Menschheit.“ Fichte stellte das Ich in den Mittelpunkt seiner neuen Philosophie. Und er stattete es mit dem aufregendsten aller Ideen aus: dem freien Willen. Der Jenaer Kreis bestand darauf, dass neben der Vernunft und dem rationalen Denken auch die Fantasie ihren Platz haben müsse. Die Freunde wandten den Blick nach innen.

Die wichtigste Aufgabe war für Novalis und die anderen fabelhaften Rebellen das eigene Ich zu begreifen. Denn ohne vollendetes Selbstverständnis lernt man niemals andere wahrhaft zu verstehen. Nur durch Selbstreflexion kann ein Mensch sein Verhalten gegenüber anderen hinterfragen. Nur durch Selbsterkenntnis kann man Empathie mit anderen empfinden. Andrea Wulf zieht folgendes Fazit: „Der Kreis der Jenaer Frühromantiker hat unserem Verstand Flügel verliehen. Wie und wozu wir diese Flügel nutzen, liegt ganz allein bei uns.“

Fabelhafte Rebellen
Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich
Andrea Wulf
Verlag: C. Bertelsmann
Gebundene Ausgabe: 525 Seiten, Auflage 2: 2022
ISBN: 978-3-579-10395-1, 30,00 Euro

Von Hans Klumbies