Grenzenlose Freiheit ist nicht möglich

Abhängig zu sein, ist für den Menschen kränkend und wird bekanntlich, so gut es geht, verleugnet. Diese Kränkung macht verständlich, warum vielen der radikale Gegenentwurf völliger Unabhängigkeit und das damit verbundene Versprechen grenzenloser Freiheit verlockend erscheinen. Joachim Bauer erklärt: „Der geheime Wunsch, der Schwerkraft der Inter-Personalität zu entkommen, sich über andere erheben zu können und dadurch eine gewisse Großartigkeit zu erreichen, erinnert an Ikarus, der die Warnung seines Vaters missachtete, beim Fliegen mit den aus Wachs zusammengeklebten Federn der Sonne nicht zu nahe zu kommen.“ Dass Menschen autonom sein wollen, ist völlig legitim. Doch sosehr sie sich auch bemühen: Der Versuch, das in ihnen verankerte Du und die vielen äußeren und interpersonellen Abhängigkeiten loszuwerden, ist zum Scheitern verurteilt. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.

Das Ringen um Autonomie begleitet einen Menschen sein Leben lang

Dieses Scheitern zu akzeptieren, ist ein seelischer Reifungsprozess, der einige Jahre braucht – manchen Menschen gelingt er nie. Joachim Bauer schreibt: „Das sich in jedem Menschen abspielende lebenslange Drama zwischen Abhängigkeit und Wunsch nach Autonomie nimmt im zweiten Lebensjahr seinen Anfang, es wird in der Pubertät – auf einer sozusagen höheren, anspruchsvolleren Ebene – ein zweites Mal durchlebt und begleitet uns durchs ganze Leben.“ Oft erfährt es, wenn sich zum Lebensende Schwächen einstellen, im Alter nochmals eine letzte Zuspitzung.

Sobald er der Mutterbrust nicht mehr bedarf und ein paar Meter davonkrabbeln kann, beginnt der Mensch, seine Abhängigkeit als ambivalent zu erleben. Der Verbindung zum Du, der das menschliche Selbst seine Entstehung am Beginn des Lebens verdankt, folgt daher eine Gegenbewegung. Nicht lange, nachdem der Säugling seinen ersten Geburtstag hinter sich gebracht hat, beginnt ein Ringen um Autonomie, welches den Menschen das ganze Leben begleiten wird.

Autonomie und Bindung bedingen sich gegenseitig

Bindung und Autonomie erscheinen zunächst als widersprüchlich, doch tatsächlich bedingen sie sich. Joachim Bauer erläutert: „Zwischen einer engen, für das Kind verlässlichen frühen Bindung an seine Beziehungsperson(en) und seiner Fähigkeit, Autonomie zu wagen und zu entwickeln, besteht ein Ping-Pong-Verhältnis: Nur verlässlich gebundene Kinder, die in ihren Eltern, Betreuerinnen und Betreuern eine „sicheren Hafen“ haben, wagen sich von diesem ein Stück weg „hinaus aufs Meer“ und entdecken ihre Umgebung.“

Unsicher gebundene Kinder dagegen sind ängstlich, verhalten sich klammernd und tun sich mit zeitweisen Trennungen besonders schwer. Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge erfolgte durch einige Wissenschaftler, welche die sogenannte Bindungsforschung begründeten. Die überragende Bedeutung einer sicheren Bindung des Kindes zu einer oder zu mehreren Bezugspersonen machten unter anderen die britischen Forscher John Bowlby und Mary Ainsworth deutlich. Zwischen einer vom Kind als sicher erlebten frühen Bindung und seiner Fähigkeit und seinem Mut, Autonomie zu entwickeln, besteht ein dialektisches Verhältnis. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer

Von Hans Klumbies