Homogenität einer Gesellschaft bedeutet nicht einfach Vereinheitlichung. Isolde Charim erläutert: „Homogenität einer Gesellschaft bedeutet vielmehr die Sekundarisierung der Unterschiede. Homogen ist eine Gesellschaft nicht, wenn es keine Unterschiede mehr gibt. Homogen ist eine Gesellschaft, wenn die Unterschiede zweitrangig werden – angesichts des Gemeinsamen.“ Dieses Gemeinsame, das der nationale Typus bereitstellt, beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeit: In dessen Gestalt können sich alle Mitglieder der Nation wiedererkennen. Die „imagined community“ ist eine Gemeinschaft der Ähnlichen. In diesem Sinne war die Nation der Versuch, die Gemeinschaft unter den Bedingungen der Moderne in die Gesellschaft einzuführen – eine vorgestellte Gemeinschaft, die suggeriert, einander völlig Unbekannte würden einen Verbund von Gleichen, von Ähnlichen bilden. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.
Die eigene Identität ist niemals vollständig
Die Erzählung von der Nation war also ein Weg, in Massengesellschaften tatsächlich Bindungen herzustellen. Eine solche homogene Gesellschaft – so fiktiv sie auch immer sein mag – funktioniert auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Identität und auf jener der Zugehörigkeit. Sie bietet den Menschen eine besondere öffentliche Identität an, den nationalen Typus. Und er bietet ihnen eine besondere Art der Zugehörigkeit an. Homogen ist eine Gesellschaft, wenn man glaubt, ihr voll und ganz anzugehören, voll und ganz zu sein. Das ist ihre wesentliche Definition.
Seit Sigmund Freud weiß man, dass jede Identität, die glaubt, sie sei vollständig, ein Irrglaube ist. Seit den Anfängen der Psychoanalyse weiß man auch, dass jede Zugehörigkeit, die von sich meint, sie sei selbstverständlich und unmittelbar, sitzt einer Fiktion auf. „Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus“ heißt Sigmund Freuds wohl bekannteste Formel. Wesentlich ist, dass er damit beides in Frage stellt: sowohl das Ich als auch das Haus. Das Ich stellt er in seinem Selbstverständnis in Frage und das Haus als das Eigene.
Im Fall der Nation umfasst das Milieu das ganze Land
Und trotzdem war die Nation lange Zeit der erfolgreiche Versuch, genau diese zwei Illusionen im großen Maßstab, im Maßstab der Gesamtbevölkerung aufrechtzuerhalten. Isolde Charim schreibt: „Die Illusion des intakten Ichs, die Illusion – wen ich einen nationalen Typus verkörpere, dann bin ich dieser auch. Voll und ganz.“ Ebenso aber hat die Nation auch die Illusion des Hauses, die Illusion des eigenen Hauses aufrechtzuerhalten. Das Land als das eigene Haus des Ichs. Das Land ist das Haus, in dem das nationale Ich der Herr ist.
Wenn ein Land zum „eigenen Haus“ wird, dann bedeutet das: Sämtliche Institutionen, sämtliche Instanzen haben dieselbe Grundierung. Man könnte auch sagen: Sie alle sind nicht nur auf einen Takt, sie sind auch auf einen Ton gestimmt. Ein anderes Wort für diesen Gleichklang, für dieses gleich gestimmte, für dieses eigene Haus lautet: Milieu. Ein Milieu ist eine Umgebung. Eine Umgebung, die ein Ganzes bildet, eine Einheit. Im Fall der Nation umfasst dieses Milieu das ganze Land. Hier, in einem solchen Milieu ist der nationale Typus verankert. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim
Von Hans Klumbies