Eine Tragödie soll Furcht und Mitleid erregen

In den Dramen der französischen und englischen Schriftsteller fand Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) die Aufhebung der alten feudalen Ständeklausel, die das erwachende bürgerliche Selbstgefühl beleidigte, bereits in die Praxis umgesetzt: Der Bürger war dort tragödienfähig geworden. Gotthold Ephraim Lessing überwand die feudale Ständeklausel dadurch, dass er den Menschen abgelöst von seiner ständischen Gebundenheit zum Handelnden machen wollte: „Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stück Pomp und Majestät geben; zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muss natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleid haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen und nicht als mit Königen.“ Diese Berufung Gotthold Ephraim Lessings auf das Menschliche hing eng zusammen mit seinem Bemühen um eine neue, differenzierte Funktionsbestimmung der Literatur.

Ein Dichter muss das Wesentliche und Typische wiedergeben

Nicht moralische, sondern sittliche Läuterung wollte Gotthold Ephraim Lessing erreichen. Ziel der Tragödie war es, Furcht und Mitleid beim Zuschauer beziehungsweise Leser zu erregen. Durch Furcht und Mitleid sollte die Tragödie zur Reinigung der Leidenschaften führen. Der Zuschauer sollte sich mit dem Helden identifizieren, bei seinem Unglück Mitleid empfinden und zugleich von der Furcht ergriffen werden, das gleiche Unglück könne auch ihn treffen. Eine solche Absicht war nur zu verwirklichen, wenn der Held keine idealtypisch gezeichnete Person war.

Der Held musste eine realistische Figur abgeben, einen „gemischten Charakter“, das heißt einen Menschen, der „weder nur gut noch völlig böse“ angelegt war. Dieser psychologische Realismus Gotthold Ephraim Lessings wird an seinem Begriff der poetischen Nachahmung deutlich. Der Dichter soll die Dinge nicht naturalistisch wiedergeben, sein Ziel soll vielmehr die poetische Wahrheit sein. Diese wird erreicht, wenn der Dichter alles Unwichtige, Zufällige und Nebensächliche weglässt und sich ganz darauf konzentriert, das Wesentliche und Typische wiederzugeben.

Gotthold Ephraim Lessing entwickelt das Prinzip der poetischen Nachahmung

Gotthold Ephraim Lessing schreibt: „Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen Umständen tun werde.“ Gotthold Ephraim Lessings Funktionsbestimmung der Literatur eröffnete neue künstlerische Möglichkeiten. Das Prinzip der poetischen Nachahmung, das er gegen das Prinzip der Nachahmung der Natur setzte, machte eine künstlerische Gestaltung im modernen Sinne überhaupt erst möglich.

Zugleich bedeutete die lessingsche Funktionsbestimmung auch eine Aufwertung des Dichters, der erstmals als künstlerisches Subjekt begriffen und legitimiert wurde. Nicht minder bedeutsam als seine Leistungen als Theoretiker war Gotthold Ephraim Lessings Tätigkeit als Kritiker. Mit seinen literaturkritischen Arbeiten setzten eine neue Ära der literarischen Auseinandersetzung in Deutschland und ein Aufschwung des literarischen Lebens insgesamt ein. Seine kritischen Schriften „Briefe, die neueste Literatur“ betreffend, gab er mit seinen Freunden Nicolai und Mendelssohn heraus. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies