Das narrative Denken ist ein großartiges Medium

Fritz Breithaupt klärt in seinem neuen Buch „Das narrative Gehirn“ darüber auf, warum Menschen so viel Zeit mit Narrationen verbringen. Eine seiner Thesen lautet: „In den Narrationen erleben wir die Erlebnisse von anderen mit und teilen ihre Erfahrungen. Das ist möglich, weil wir uns in Narrationen ja an die Stelle von anderen versetzen können und dann tatsächlich „ihre“ Erfahrungen selbst machen.“ Man kann auch narrative und mentale Erfahrungen machen und zugleich die Handlungen nicht ausführen. Somit verdoppelt man sein Leben. Man kann auch bereits Getanes ein zweites Mal miterleben oder sich eine geplante Handlung vor Augen führen. Dies fängt bei minimalen Reaktionen an und endet bei den großen Lebensentscheidungen. Insofern ist narratives Denken ein großartiges Medium des Erlebens und Planens. Fritz Breithaupt ist Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an der Indiana University in Bloomington.

Bestimmte Narrationen machen süchtig

Menschen lassen sich auf das narrative Denken ein, weil es sie mit dem Erleben von Emotionen belohnt. Die jeweilige Emotion ist bereits an sich etwas, das man positiv bewertet. Und zugleich haben die meisten Emotionen auch je eigene Stoppfunktionen, die es einem Menschen erlauben, aus der Narration auszusteigen. Die narrativen Emotionen, von denen in dem Buch „Das narrative Gehirn“ die Rede ist, bestimmen, wie Menschen leben und wie sie gut leben.

Fritz Breithaupt stellt fest: „Bestimmte Narrationen machen uns in einem gewissen Sinne süchtig. Oder vorsichtiger gesagt: Bestimmte narrative Abfolgen prägen sich uns so sehr ein, dass wir sie immer wieder aufsuchen und uns an sie gewöhnen.“ Jeder hat da seine eigenen Schwächen. Hier stellt sich die Frage, ob das narrative Denken, das einen Menschen aus seinem eigenen Denken hinausführt und das Leben anderer miterleben lässt, nicht auch gefangen hält.

Narrationen eröffnen ein reicheres Leben

Derzeit wird sogar vor narrativem Denken gewarnt und es wird etwa mit Fake News, Polarisierung und Extremismus in Verbindung gebracht. Jonathan Gottschall beispielsweise definiert Geschichten schlicht als „Beeinflussungsmaschinen“. Narrationen, so der Verdacht, bestimmen das Leben vieler Menschen, gerade weil sie nicht bemerken, wie sie von ihnen gesteuert werden und dass es sich bloß um Geschichten handelt. Der Einfluss der Geschichten auf das Leben kann, so gesehen, in zahlreichen Fällen katastrophal sein und Menschen zur Unfreiheit verdammen.

Der Mensch ist als Homo narrans, nicht nur ein Wesen, dem man Geschichten erzählt, sondern ein Individuum, das selbst erzählt und nacherzählt. Fritz Breithaupt betont: „Jedes Erzählen findet im Plural statt.“ Ein narrativ aufgeklärtes Bewusstsein ist eines, das sich von Narrativen gerne fesseln und leiten lässt. Aber das zugleich das „Entfesselungspotential“ von Geschichte kennt und im eigenen Aufnehmen und Weiterspinnen der Narrationen entfaltet. In jeder Geschichte liegt das Potential des Auszugs aus einer als zu eng wahrgenommenen Welt. Fritz Breithaupt weiß: „Wenn wir dieses Potential nutzen, eröffnet sich uns ein intensiveres, reicheres Leben.“

Das narrative Gehirn
Was unsere Neuronen erzählen
Fritz Breithaupt
Verlag: Suhrkamp
Gebundene Ausgabe: 367 Seiten, Auflage 2: 2022
ISBN: 978-3-518-58778-2, 28,00 Euro

Von Hans Klumbies