Die Metamorphose ist die Bestimmung des Menschen

Einmal geboren, haben die Menschen keine Wahl mehr. Emanuele Coccia erklärt: „Die Geburt lässt uns die Metamorphose zur Bestimmung werden. Wir sind nur auf der Welt, weil wir geboren wurden.“ Das Gegenteil trifft aber genauso zu. Geboren zu sein, bedeutet ein Stück dieser Welt zu sein. Gewiss, allerdings eines, dessen Gestalt die Menschen verändern mussten. Die Menschen sind eine Metamorphose dieses Planeten. Und einzig durch Metamorphose haben sie Zugang zu sich selbst und zu allen übrigen Körpern erhalten. Sie haben das Stück Materie, das sie beherbergt, verändert, um auf die Welt zu kommen. Sie haben sich dem Körper und Leben ihrer Eltern anverwandt und deren Lauf verändert. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Die Metamorphose endet nie

Das Leben eines Menschen hat mit einem Akt der Verwandlung des Lebens anderer begonnen. Dieser Akt endet nicht mit der Entbindung und der Geburt: Metamorphose kennt keinen Stichtag. Das Ich ist immer ein Zuwachs von Funktionen. Emanuele Coccia ergänzt: „Nur wenn wir diesen Gestus fortsetzen, können wir weiterleben. Die Metamorphose endet nie. Sie ist nicht nur eine Narbe, die die Geburt hinterlassen hat, sie ist eine Bestimmung.“ Sie ist kein vergangenes, unverfügbares Ereignis, sondern der Lebensmodus aller lebendigen Körper.

Die Metamorphose bringt keine Passivität mit sich. Sondern sie ist der unendliche Raum der Aktivität des Lebendigen im Angesicht seiner selbst und der Welt. Metamorphose ist Anhaftung an und Koinzidenz mit einem anderen Körper – dem Körper eines anderen, den man sich aneignet und Schritt für Schritt zähmt. Eine Verwandlung durchmachen, bedeutet, im Körper des anderen „ich“ sagen zu können. Alle metamorphischen Wesen sind aus dieser Andersheit zusammengesetzt, die niemals verlischt und werden von ihr bewohnt.

Jeder hat etwas Fremdes in sich

Der Begriff „Erbgut“ drückt dies ganz genau aus. Das Innigste und Tiefste in einem Menschen, seine genetische Identität, kommt von anderen, brüteten andere aus. Die Gestalt eines Menschen kann man niemals mit dem Verb „sein“ konjugieren, denn sie zeigt nur einen Besitz an. Nämlich etwas, was man hat, einen Habitus. Niemand kann sie integrieren, immer bleibt eine Spur Andersheit im eigenen Selbst bestehen. Emanuele Coccia fügt hinzu: „Doch diese Andersheit wurde uns mitgegeben: Jetzt ist sie bereit für Modifizierungen.“

Ein Erbgut drückt die Möglichkeit aus, sich anzueignen und zu modifizieren, was anderen gehörte. Geboren zu sein, bedeutet dies: Man ist nicht rein, man ist nicht ich. Jeder hat etwas in sich, das von anderswo herkommt, etwas Fremdes, das einen drängt, immer wieder sich selbst fremd zu werden. Niemals wird ein Mensch homogen, nachvollziehbar, absolut wiedererkennbar sein. Metamorphose ist die Unmöglichkeit, den anderen zu ersetzen, die paradoxe Koexistenz der entferntesten Möglichkeiten in ein und demselben Leben. Quelle: „Metamorphosen“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies