Obwohl in der Geschichte der Ethik von Cicero bis Friedrich Nietzsche immer wieder Argumente vorgetragen wurden, die es verbieten sollten, Egoismus und Altruismus als Gegensätze zu behandeln, herrscht im alltäglichen Urteil wie auch in öffentlichen Debatten die Neigung vor, in beiden eine Art ewiger Alternative auszumachen. Volker Gerhard kann das verstehen, wenn er es mit den individuellen und kollektiven Erscheinungsformen des persönlichen, ökonomischen und politischen Egoismus zu tun hat. Volker Gerhardt schränkt allerdings ein: „Blickt man hingegen auf die Entwicklung einzelner Individuen und stellt sie in Relation zu dem was wir überhaupt über den Umgang mit Neugeborenen, heranreifenden Kindern und Jugendlichen sagen können, wird man das allgemeine Urteil nicht zurückhalten können, dass ohne den Altruismus der Eltern und ohne den Egoismus ihrer Schützlinge gar nichts geht.“ Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Erfüllte Rollenerwartungen werden kompensatorisch belohnt
Gewiss treten die mit den Begriffen bezeichneten Verhaltensweisen nur selten in Reinform auf; aber durchschnittlich wird sich der Eindruck rechtfertigen lassen, dass es des Gegensatzes zwischen der Sorge für den Anderen und dem opponierenden Eigensinn bedarf, um nicht nur Entwicklung und Erziehung, sondern produktives Leben überhaupt gelingen zu lassen. Dabei darf man nicht vergessen, dass die gesellschaftliche Rollenerwartung beide Seiten für ihr Verhalten kompensatorisch belohnt.
Gute Eltern können, wenn ihre Mühe nicht umsonst ist, auch ihren Egoismus als Eltern belohnt sehen; und gute Kinder haben viele Chancen, in der Liebe zu den Eltern, im Teilen mit den Geschwistern sowie in der Verlässlichkeit gegenüber ihren Freunden Altruismus einzuüben. Von einem diametralen Gegensatz zwischen Fremd- und Selbstliebe kann unter den notwendig sozialen Konditionen des Lebens, vor allem mit Blick auf die Generationenfolge und der Notwendigkeit der Kooperation keine Rede sein.
Charles Darwin bekennt sich zur Philanthropie
Volker Gerhard erläutert: „Es ist nicht überzogen, das so allgemein zu formulieren. Denn Egoismen und Altruismen können sich in Abhängigkeit von jeweiligen Funktionen und Konventionen durchaus bei ein und derselben Person vereinigt finden.“ Die sich für ihre Kinder aufopfernden Eltern können als Geschäftsleute kompromisslos auf ihren Vorteil bedacht sein. Außerdem kommen Egoismus und Altruismus, wenn man sie überhaupt so nennen kann, in vielen Varianten auch bei anderen Lebewesen vor.
Man darf es als einen wissenschaftsgeschichtlich und philosophisch exemplarischen Akt ansehen, dass der von manchen noch heute als Vertreter, ja als „Erfinder“ des durchgängigen Egoismus in der Natur geschmähte Charles Darwin sich gegen Ende seines Lebens zur Philanthropie bekennt. Außerdem darf man nicht beiseitelassen, dass seine These vom „survival of the fittest“ im strengen Sinn gar nicht als Beleg für den Egoismus angesehen werden kann. Denn selbst im rücksichtslosen Überlebenskampf findet stets eine Vermittlung zwischen individueller Selbstbehauptung und möglichen Vorteilen für die Gattung statt. Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt
Von Hans Klumbies