Gesellschaften funktionieren nicht nach „natürlichen“ Gesetzen

Normativität und Moral entstehen aus der Wirklichkeit des Lebens, weil und indem sie sie strukturieren. Die meisten Menschen handeln fast stets mit „Sinn“, und menschliches Handeln hat daher nicht nur eine Wirkung in der physischen Außenwelt, sondern auch immer „Sinn“ in der Kommunikation. Thomas Fischer fügt hinzu: „Die schönste Moral nutzt nichts, wenn sie sich im Appell erschöpft, die Umwelt und die anderen mögen sich bitte der Moral des Sprechers gemäß verhalten.“ Um die Moralen herum sind daher von Anfang an Strukturen und Mechanismen gebaut, die eine „herrschende“ Moral hervorbringen und stabilisieren können. „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“, definierte Max Weber. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Herrschaft entsteht mit der Entstehung von „Befehlen“

In der Systemtheorie von Niklas Luhmann kann man noch wesentlich höher abstrahierende Beschreibungen von Macht als „Kommunikationsmedium“ und über den Zusammenhang von Macht, Gewalt, Herrschaft und gesellschaftlicher Differenzierung finden. Macht und Herrschaft existieren laut Thomas Fischer, weil normatives Denken, Konkurrenz um begrenzte Ressourcen und Unsicherheit von Möglichkeiten und Erwartungen existieren. Menschliche Gesellschaften funktionieren nicht nach „natürlichen“ Gesetzen und beschränken sich nicht in eine Einübung in die Furcht vor zufälliger Gewalt.

Herrschaft entsteht, wenn man von der zitierten Definition Max Webers ausgeht, mit der Entstehung von „Befehlen“, ist also quasi notwendiger Bestandteil der sozialen Etablierung von Moral. Thomas Fischer erläutert: „Als Faktor der Verhaltensteuerung entsteht sie vor allem durch soziale Differenzierung, diese wiederum durch unterschiedliche Aneignung von Ressourcen: Nahrung, Sexualpartner, Raum, Lebenschancen, Reichtum.“ Eine herrschaftsfreie Gesellschaft findet man heute nur noch in Spuren, in manchen kleinen, egalitären Gruppen von „wild“ lebenden Menschen.

Herrschaft muss Legitimität erzeugen

Wo Herrschaft entsteht, ist sie bemüht, sich nicht allein der objektiven Ressourcen, sondern stets zugleich der Normen und der Moral zu bemächtigen, indem sie Institutionen schafft, die für die Definition von Wahrheit zuständig sind. Individuelle Interessen, die der Herrschaft entgegenstehen, müssen ausgegrenzt und faktisch neutralisiert werden, damit sich Herrschaft stabilisieren kann. Das kann nur gelingen, wenn sie Legitimität erzeugt, also den Anspruch „richtige“, wahre, berechtigte Macht zu haben, und die Anerkennung dieses Anspruchs.

Auch eine Herrschaft, die sich „auf Gewalt“ bzw. auf deren Androhung stützt, benötigt Legitimität, um die Gewalt selbst zu organisieren. Für das Verständnis des Strafens ist die Unterscheidung von Herrschaftsformen nützlich, die Max Weber vorgenommen hat: traditionale, charismatische und bürokratische Herrschaft. Mit diesen Begriffen sind weniger äußere Formen als vielmehr innere Begründungen gemeint; es handelt sich also um „Legitimitätsformen“ von Herrschaft. Sie sind analytische Begriffe, welche die soziale Lebenswirklichkeit „idealtypisch“ beschreiben, aber nicht abbilden. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies