Die Leidenschaften sind die Hauptwerkzeuge zur Selbsterhaltung eines Menschen. Sie zerstören zu wollen wäre ebenso vergeblich wie lächerlich, denn das hieße die menschliche Natur kontrollieren zu wollen. Darum hält Jean-Jacques Rousseau jemanden, der verhindern möchte, dass Leidenschaften überhaupt aufkommen, für nahezu ebenso töricht wie den, der sie gänzlich zerstören möchte. Die Quelle der Leidenschaften, die man bei sich selbst und bei anderen feststellt, ist natürlichen Ursprungs. Jean-Jacques Rousseau schreibt: „Unsere natürlichen Leidenschaften sind sehr begrenzt; sie sind die Werkzeuge unserer Freiheit und dienen zu unsrer Selbsterhaltung. Alle jene, die uns unterjochen und zerstören, kommen von außen. Die Natur gibt sie uns nicht, wir eignen sie uns ihrer ungeachtet an.“ Die Quelle der Leidenschaften, Ursprung und Prinzip aller anderen, die einzige die mit dem Menschen geboren wird und ihn bis zum Tode nicht verlässt, ist die Selbstliebe.
Die Selbstliebe ist immer gut
Die Selbstliebe ist die angeborene Urleidenschaft, älter als alle anderen, die, in gewisser Weise, nur ihre Abwandlungen sind. Wenn man so will, sind in diesem Sinne alle Leidenschaften natürlich. Jedoch haben diese Abwandlungen zum größten Teil von außen kommende Ursachen, ohne die sie gar nicht vorhanden wären. Weit entfernt, einem Menschen zu nützen, fügen diese Abwandlungen ihm sogar Schaden zu. Sie verändern ihren ursprünglichen Gegenstand und verstoßen gegen ihr eigenes Prinzip: in diesem Augenblick tritt der Mensch aus der Natur heraus und setzt sich in Widerspruch zu sich selbst.
Jean-Jacque Rousseau stellt fest: „Die Selbstliebe ist immer gut und entspricht immer der Ordnung. Da jeder speziell für seine Selbsterhaltung aufkommen muss, ist und muss die wichtigste seiner Sorgen die sein, ohne Unterlass auf sie bedacht zu sein: und wie könnte er das, wenn er nicht das größte Interesse daran hätte?“ Der Mensch muss sich also selber lieben, um sich selbst zu erhalten, er muss sich selbst mehr lieben als alles andere – und in unmittelbarer Folge dieses Gefühls, liebt er das, was ihn erhält.
Menschen ohne Empfindungen erzeugen bei anderen Kälte
Empfindungslose Wesen, die nur den Anregungen folgen, die man ihnen gibt, erzeugen im eigenen Inneren Kälte. Aber die, deren innerliche Veranlagung je nach ihrem Willen Gutes oder Böses verspricht, die, die willkürlich für oder gegen etwas handeln, inspirieren die eigenen Gefühle gleich denen, die sie zeigen. Was einem Menschen dienlich ist, sucht er; aber was ihm dienlich sein will, liebt er. Was einem Menschen schadet, meidet er; aber was ihm schaden will, hasst er. Das erste Gefühl eines Kindes ist es, sich selbst zu lieben.
Das zweite Gefühl eines Kindes, das dem ersten entstammt, ist, die zu lieben, die sich ihm nähern; denn in seinem schwachen Zustand kennt es jeden nur durch den Beistand und die Fürsorge, die es empfängt. Jean-Jacques Rousseau ergänzt: „Aber in dem Maß, da es seine Beziehungen, seine Bedürfnisse und seine aktiven oder passiven Abhängigkeitsverhältnisse ausweitet, erwacht in ihm das Gefühl seines Verhältnisses zur Umwelt und erzeugt das der Schuldigkeit und Bevorzugung. In diesem Augenblick wird das Kind herrschsüchtig, eifersüchtig, hinterhältig und rachsüchtig.“ Quelle: „Emile oder Über die Erziehung“ von Jean-Jacques Rousseau im Reclam Heft „Was ist Liebe?“
Von Hans Klumbies