Jede Erinnerung ist mit Emotionen verknüpft

Jede bewusste Erinnerung ist mit Emotionen verbunden. Ist ein Mensch traurig, hat er unangenehme Erinnerungen, ist er glücklich, angenehme. Christian Schüle erläutert: „Empfindungen von Trauer oder Freude sind emotionale Wertungen. Je stärker die Emotion bei einem Ereignis im Spiel ist, desto deutlicher und besser ist die Erinnerung an dasselbe.“ Im menschlichen Gehirn gibt es einen autonomen Bereich, in dem explizite Erinnerungen an emotionale Erlebnisse verknüpft werden und auf implizite emotionale Erinnerungen treffen. Es handelt sich dabei um das Arbeitsgedächtnis mit dem von ihm erzeugten unmittelbaren bewussten Erlebnis. Wenn Erinnern Wiedererleben und Wiedererleben nichts anders als neuronales Wiederkennen ist, dann ist Erinnerung auch Erkenntnis. Christian Schüle ist freier Autor und Publizist. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Das „Kernselbst“ ist einem Menschen bewusst

Erkenntnis wiederum setzt Bewusstsein voraus, und Bewusstsein trennt – in der Definition des Neurologen Antonio Damasio – ein sogenanntes „Kernselbst“ vom „Protoselbst“. Das Kernselbst ist einem Menschen bewusst. Es kann durch jedes beliebige Objekt ausgelöst werden. Das Protoselbst dagegen ist einem Menschen nicht bewusst. Es ist Damasio zufolge eine „Ansammlung von wechselseitig verbundenen und zeitweise zusammenhängenden neuronalen Mustern, die den Zustand des Organismus von Augenblick zu Augenblick auf verschiedenen Ebenen des Gehirns repräsentieren“.

Höher als das Proto- und das Kernselbst ist nur noch das autobiografische Selbst veranschlagt, das aus unbelichteten Erinnerungen an viele Momente der subjektiven Erfahrung in der Vergangenheit besteht. Ab einem Alter von drei Jahren entsteht bei einem Kind Selbstbezug. Das sogenannte „Selbst“ ist, philosophisch betrachtet, der unmittelbar gegebene Inhalt des Selbstbewusstseins. Das heißt, dass das Individuum im Alltag ständig wechselnde Beziehungen zu seiner Umwelt und den eigenen geistigen Zuständen aufnimmt.

Jeder Mensch beherrscht die Sprache seiner Heimat

Dass ein Mensch seine eigene Innenperspektive kennt, zeichnet ihn als selbstbewusstes Wesen aus und macht ihn erinnerungsfähig. Christian Schüle erklärt: „Viele empirische Daten stützen die Vermutung, dass die bewusst erlebte Gegenwart eines Orts, eines Ereignisses, einer biografischen Erfahrung eine erinnerte Gegenwart der Vergangenheit im Bewusstseins-Kontinuum ist.“ Und die immerzu und willkürlich erinnerte Gegenwart der eigenen Herkunft ist nichts anderes als: Heimat. Wobei die Herkunft wertet und bewertet wird.

Heimat ist die dem einen Menschen bekannte, allen anderen unbekannte Grammatik des Ortes und zugleich der Code der eigenen Bindung daran. Heimat ist auch eine Frage der Sprache. Dann ist Heimat ebenso die Geschichte eines bestimmten Ortes, der aus einem Menschen spricht. Christian Schüle ergänzt: „Diese Sprache in und durch sich selbst wird von Generation zu Generation weiter übersetzt, aus dem Original in einen womöglich zeitgemäßen Slang, aber dennoch bleiben Wortstamm und Semantik einander treu. Jeder Mensch beherrscht seine Sprache, die die Sprache seiner Heimat ist.“ Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies