Die Menschen können die Welt als ein Geflecht aus Ereignissen begreifen, aus einfacheren Geschehnissen und komplexeren. Letztere lassen sich auf einfachere zurückführen. Carlo Rovelli nennt Beispiele: „Ein Krieg ist kein Ding, sondern eine Menge aus Ereignissen. Ein Gewitter ist keine Sache, sondern eine Gesamtheit aus Abläufen.“ Und der Mensch? Er ist gewiss kein Ding, sondern ein komplexer Prozess, in den Luft ein- und ausströmt, aber auch Nahrung, Informationen, Licht, Sprache usw. Der Mensch ist ein Knoten unter Knoten in einem sozialen Beziehungsgeflecht. Dieses Netzwerk besteht aus chemischen Prozessen, aus Emotionen, die ein Mensch mit seinesgleichen austauscht. Lange Zeit haben die Menschen die Welt in Begriffen einer Ursubstanz zu begreifen versucht. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.
Die Welt besteht aus Veränderungen und Ereignissen
Die Physik versuchte diese Ursubstanz wohl mehr als jede andere Disziplin aufzuspüren. Aber je mehr sie nach ihr forschte, desto weniger erschien die Welt fassbar in Konzepten von etwas, das ist. Carlo Rovelli stellt fest: „Offenbar verstehen wir deutlich mehr von ihr, wenn wir sie in Blick auf Beziehungen zwischen Ereignissen begreifen.“ Schon Anaximander fordert die Menschen dazu auf, die Welt „nach der Ordnung der Zeit“ zu denken. Man versteht also die Welt, wenn man Veränderung, nicht Dinge untersucht.
Wer diesen guten Ratschlag vergaß, musste die Folgen tragen. Als zwei Große ließen sich Platon und Johannes Kepler zu diesem Irrtum verleiten, und kurioserweise durch die Mathematik. Platon versucht, die Mathematik der Form der Atome anstatt die ihrer Bewegung zu schreiben. Sein Fehler liegt in dem Versuch, die Welt in Begriffen von Dingen anstatt von Ereignissen aufzufassen: die Veränderung zu ignorieren. Die Physik und die Astronomie, die gute Ergebnisse abwerfen, sind die mathematische Beschreibung dessen, wie sich die Dinge verändern, nicht wie sie sind.
Die Physik beschreibt die Welt wie sie geschieht
Die Formen der Atome werden schließlich nur als Lösungen der Schrödinger-Gleichung verstanden. Diese beschreibt, wie sich die Elektronen in den Atomen bewegen: wieder als Ereignisse, nicht als Dinge. Demselben Irrtum sitzt viele Jahrhunderte später der junge Johannes Kepler auf, ehe er zu den großen Ergebnissen seiner Reifezeit gelangt. Er fragt sich, was die Ausdehnung der Umlaufbahnen der Planeten bestimmt. Aber auch beim ihm bleibt wie bei Platon zunächst die Bewegung außen vor.
Die Physik beschreit die Welt heutzutage also nicht, wie sie ist, sondern wie sie geschieht. Isaac Newtons Mechanik, die Maxwell-Gleichungen, die Quantenmechanik usw. verraten, wie Ereignisse stattfinden, nicht wie Dinge sind. Die Wissenschaft versteht die Biologie, wenn sie untersucht, wie sich Lebewesen entwickeln und wie sie leben. Forscher verstehen etwas von Psychologie, wenn sie untersuchen, wie Menschen miteinander interagieren und wie sie denken. Carlo Rovelli fasst zusammen: „Wir verstehen die Welt in ihrem Werden, nicht in ihrem Sein.“ Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli
Von Hans Klumbies