Die Suche nach dem Ursprung von Autorität führt laut Paul Verhaeghe zu keiner überzeugenden Antwort. Sämtliche Versuche laufen ins Leere und haben sogar den entgegengesetzten Effekt. Am erhellendsten beschreibt dies Hannah Arendt. Autorität beruht ihrer Meinung nach auf einer externen und höheren Instanz, von der man die Befehlsgewalt beziehen kann, die sie einem jedoch auch wieder entziehen kann. Das „Höhere“ bewirkt, dass Autorität nach einer Pyramidenstruktur funktioniert. Wer am oberen Ende der Pyramide steht, ist dem Allerhöchsten am Nächsten und besitzt daher die meiste Befehlsgewalt. Die Autorität nimmt ab, je weiter man in der Pyramide nach unten geht. Zudem sind die verschiedenen Ebenen eng integriert und miteinander verbunden. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.
Autorität ist keine unveränderliche Größe
So erhält man ein hierarchisches Modell, in dem eine wichtige Voraussetzung für das Wirken der Autorität sichtbar wird, nämlich die Ungleichheit. Hannah Arendt weist feinsinnig darauf hin, dass die egalitärste Regierungsform die Diktatur ist. Der Diktator steht über und vor allen anderen, die in der Tat alle gleich sind. Für Autorität ist entscheidend, dass sie auf der Grundlage freiwilliger Unterwerfung funktioniert. Eine Diktatur dagegen gründet sich auf Gewalt. Bei der Autorität geschieht die Unterwerfung freiwillig, weil sie auf eine externe Größe zurückgeht, an die eine Mehrheit glaubt.
Für die westliche Welt beschreibt Hannah Arendt drei stark miteinander verwobene Quellen: die klassische Philosophie (Platon), das alte Rom und das Christentum. Platon steht für Vernunft und ewige Wahrheit. Rom steht für Tradition und Vorfahren. Das Christentum kombiniert beides und fügt noch eine ordentliche Portion Angst hinzu. Paul Verhaeghe fügt hinzu: „Die Funktionsweise der Autorität ist vermutlich universell. Ihre Quellen jedoch sind orts- und zeitgebunden. Damit zeigt Hannah Arendt auf, dass Autorität, wie wir sie kennen, keine unveränderliche Größe ist.“
Platon weist die Befehlsgewalt dem Philosophenkönig zu
Die bekannte Autorität ist zu einer bestimmten Zeit entstanden und kann demnach auch wieder verschwinden. Sie verschwindet, wenn der Glaube an ihre Quelle schwindet. In seinem Entwurf eines idealen Staates weist Platon die Befehlsgewalt dem Philosophenkönig zu, weil er die ewigen Wahrheiten und das Gute und Schöne am besten versteht. Das normale Volk verfügt nicht über diese Erkenntnis. Damit auch das Volk dieses Wissen erhält, suggeriert Platon eine Lösung, die dem gemeinen Volk auch gut zweitausend Jahre später noch den Schlaf raubt.
Mit einem Federstrich erfindet Platon sowohl die unsterbliche Seele als auch die Hölle. Das Jenseits ist ein Ort, an dem das allerletzte Evaluationsgepräch stattfindet; zu Gericht sitzen dabei die Götter. Wer zu Lebzeiten schlecht war, wird in die Unterwelt gebracht und dort zehnfach bestraft; wer gut war, wird belohnt und darf in die himmlischen Sphären aufsteigen. Paul Verhaeghe betont: „Aus Platons Beschreibung wird ersichtlich, dass weder er selbst noch seine Philosophen-Kollegen daran glaubten.“ Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe
Von Hans Klumbies