Selbstgewählte Identitäten bergen Gefahren in sich

Amartya Sen betont die Bedeutung der wohlüberlegten Entscheidung für selbstgewählte Identitäten. Nämlich um die Zuschreibung ausschließlicher Identitäten abzuwehren. Und so zu verhindern, dass Menschen sich für Kampagnen mobilisieren lassen, in man gebrandmarkte Opfer terrorisiert. Viele Greueltaten auf der Welt gehen auf Kampagnen zurück, in denen man selbstgewählte Identitäten gegen zugeschriebene austauschte. So verwandelten sich alte Freude in Feinde und widerliche Sektierer schwangen sich zu mächtigen politischen Führern auf. Amartya Sen erläutert: „Es ist daher eine anstrengende und äußerst wichtige Aufgabe, im identitätsbezogenen Denken den Elementen der Vernunft und der freien Wahl Geltung zu verschaffen.“ Denn ist gibt tatsächlich Alternativen zwischen denen Menschen wählen können. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Viele ältere Bräuche sind zerbröselt

Es liegt in der Tat an der fraglosen Hinnahme überkommener Anschauungen, wenn man Frauen in sexistischen Gesellschaften ungleich behandelt. Ebenso schändlich ist es, wenn man Angehörige anderer ethnischer Gruppen diskriminiert. Amartya Sen weiß: „Viele ältere Bräuche und angenommene Identitäten sind durch ihre Infragestellung und Überprüfung zerbröselt.“ Doch nicht immer muss die fraglose Hinnahme einer sozialen Identität auf Traditionalismus beruhen.

Es kann auch eine radikale Neuorientierung hinsichtlich der Identität im Spiel sein. Diese verkauft man dann, ohne dass eine wohlüberlegte Wahl stattgefunden hätte, als „Entdeckung“. Daraus kann Gewalt erschreckenden Ausmaßes erwachsen. Zu Amartya Sens verstörenden Erinnerungen gehören die Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen im Indien der 1940er Jahre. Mit dem verwirrten Blick eines Kindes musste er beobachten, wie sich infolge der Teilungstendenzen massenhaft Identitäten änderten. Sehr viele Menschen übernahmen ganz plötzlich eine sektiererische Identifikation mit der Gemeinschaft der Hindus, der Muslime oder der Sikhs.

Das Weltgeschehen beherrschen viele Konfliktlinien

Das anschließende Blutbad beruhte weitgehend auf einem schlichten Herdentrieb der Menschen. Diese entdeckten auf einmal ihre neuen kriegerischen Identitäten, ohne diesen Vorgang kritisch zu hinterfragen. Die gleichen Menschen waren auf einmal anders. Einen bemerkenswerten Anwendungsfall imaginierter Singularität findet Amartya Sen in dem grundlegenden Einteilungsschema, das der vieldiskutierten These vom „Kampf der Kulturen“ zugrunde liegt.

Die These vom „Kampf“ der Kulturen ist für Amartya Sen nur eine parasitäre Weiterführung des Hauptgedankens, die Welt in unterschiedliche Kulturen einzuteilen. Diese orientieren sich zufällig genau an religiösen Trennungslinien, denen singuläre Beachtung zuteil wird. Samuel Huntington unterscheidet die westliche Kultur von einer „islamischen“, einer „hinduistischen“, einer „buddhistischen“ Kultur und so weiter. Die angeblich aufeinanderprallenden religiösen Unterschiede sind Bestandteil einer holzschnittartigen Vision, wonach das Weltgeschehen von einer einzigen Konfliktlinie beherrscht wird. Tatsächlich kann man die Menschheit natürlich nach vielen sonstigen Kriterien unterteilen, und jedes ist von oft weitreichenden Folgen für das Leben der Menschen. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies