Michael J. Sandel kennt die meritokratische Ethik

In diesen Tagen sehen viele Menschen Erfolg in einer Weise, wie die Puritaner Erlösung betrachteten. Nämlich nicht als etwas, das von Glück oder Gnade abhängig ist, sondern als etwas, das man sich durch eigene Anstrengung und Mühe verdient. Michael J. Sandel weiß: „Das ist der Kern der meritokratischen Ethik. Sie rühmt die Freiheit – die Fähigkeit, mein Schicksal vermöge harter Arbeit zu steuern – und die Verdienste.“ Wenn man selbst dafür verantwortlich ist, dass man sich einen hübschen Anteil weltlicher Güter angehäuft hat, dann muss man sich das verdient haben. Erfolg ist ein Zeichen der Tugend. Der Wohlstand steht einem zu. Diese Denkungsart gibt denjenigen Kraft, die an Meritokratie glauben. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph, der seit 1980 in Harvard lehrt. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

Die Ungleichheit hat riesige Ausmaße angenommen

Sie ermutigt die Menschen, sich selbst als verantwortlich für ihr Schicksal anzusehen. Und nicht als Opfer von Kräften außerhalb ihrer Kontrolle. Doch sie hat auch eine Kehrseite. Wenn der persönliche Erfolg das eigene Werk ist, muss das Scheitern anderer ihr Fehler sein. Diese Logik wirkt sich zersetzend auf die Gemeinschaft aus. Michael J. Sandel erklärt: „Eine zu anspruchsvolle Vorstellung von persönlicher Verantwortung für unser Schicksal behindert uns, uns in andere hineinzuversetzen.“

In den letzten vier Jahrzehnten haben meritokratische Annahmen ihren Zugriff auf das öffentliche Leben demokratischer Gesellschaften verstärkt. Selbst als die Ungleichheit riesige Ausmaße erreichte, hat die kulturelle Öffentlichkeit die Vorstellung verschärft, dass man für sein Schicksal selbst verantwortlich ist und verdient, was man bekommt. Es sieht fast so aus, als hätten es die Gewinner der Globalisierung nötig, sich selbst und andere davon zu überzeugen, dass diejenigen, die oben stehen, dort gelandet sind, wo sie hingehören.

Viele Studenten glauben ihren Erfolg verdient zu haben

Das gilt ebenso für diejenigen, die unten sitzen. Oder falls sie es noch nicht sind, dass sie irgendwann dort landen würden, wo sie hingehören. Die zunehmende meritokratische Gesinnung fiel Michael J. Sandel zum ersten Mal auf, als er seinen Studenten zuhörte. Von den 1990er bis in die Gegenwart scheinen immer mehr seiner Studenten zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass ihr Erfolg ihr eigenes Werk ist. Nämlich das Ergebnis ihrer Anstrengungen, etwas, dass sie sich verdient haben.

Zunächst nahm Michael J. Sandel an, das liege daran, dass sie in der Ära Ronald Reagans aufgewachsen waren. Dadurch hatten sie möglicherweise die individualistische Philosophie dieser Zeit verinnerlicht. Doch es handelte sich größten Teils nicht um konservative Studenten. Meritokratische Anschauungen ziehen sich durch das gesamte politische Spektrum. Besonders ausgeprägt treten sie bei Diskussionen über die bevorzugte Behandlung von Minderheiten bei den Zulassungen zur Universität zutage. Quelle: „Vom Ende des Gemeinwohls“ von Michael J. Sandel

Von Hans Klumbies