Die Überwachung breitet sich im Alltag aus

Die Suche nach Lösungen der Überwachung und Kontrolle ist nicht nur auf China und die USA beschränkt. Auch in Deutschland springen Geheimdienste und Polizei auf den Zug auf. Damit optimieren sie im Zuge der scheinbaren Terrorbekämpfung ihre Möglichkeiten. In den Achtzigerjahren empörten sich viele Menschen in Deutschland über die Volkszählung und den maschinenlesbaren Personalausweis. Heute sind sie bereit, Techniken der Überwachung in ihrem Alltag zu dulden. Richard David Precht kritisiert: „In vielen kleinen Schritten verschiebt sich damit das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit gewaltig.“ Und zwar nicht, weil sich die Bedrohungslage in Deutschland in den letzten Jahren vergrößert hat. Es gibt heute einfach viele technische Möglichkeiten, die es früher nicht gab. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Kontrolle ersetzt Freiheit

Das Vorhandensein der Mittel entscheidet über ihren Einsatz und nicht der Zweck. Tatsächlich zeigt die Kriminalstatistik bei vielen Delikten in Deutschland nach unten. Angestiegen ist vor allem die Cyberkriminalität. Richard David Precht gibt allerdings zu, dass die Situation tückisch ist. Denn jeder neu bewilligt Einsatz von Überwachungstechnik hat ja Argumente für sich. Dass die ganze Entwicklung wichtige Werte zerstört, gerät dabei leicht aus dem Blick. Denn jeder einzelne Schritt ist ja so schlimm nicht.

Doch unter der Hand wird Transparenz wichtiger als das Recht auf Privatsphäre, und Kontrolle ersetzt Freiheit. Am Ende steht kein freiheitlicher, sondern ein kybernetischer Staat, ein Wandel in ungezählten kleinen Schritten. Und nirgendwo lag ein Punkt, an dem man zwingend hätte Halt machen müssen … Intransparenz stellt in Deutschland einen großen Wert dar. Angesichts von Klüngel, Korruption und Mauschelei scheint diese Aussage zunächst befremdlich.

Eine transparente Gesellschaft ist nicht wünschenswert

Richard David Precht warnt: „Noch weiß nicht jeder alles über den anderen. Aber wir befinden uns gleichwohl auf dem Weg dorthin.“ Für das Zusammenleben ist es allerdings von unschätzbarem Wert, dass man nicht alles über die Menschen weiß, mit denen man es zu tun hat. Die Verhaltenskonten, die man von anderen führt, sind ebenso unvollständig wie die der anderen von einem selbst. Und das ist gut so. Denn wenn jeder die Möglichkeit hätte, alles über jeden anderen zu wissen, bräche eine demokratische Gesellschaft zusammen.

Eine völlig transparente Gesellschaft wäre für Richard David Precht nicht entfernt wünschenswert. Das gleiche gilt seiner Meinung nach auf für eine Gesellschaft, die abweichendes Verhalten von der Norm gar nicht mehr zulässt. Der Soziologe Heinrich Popitz schreibt: „Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren. Eine Gesellschaft, die jede Verhaltensabweichung aufdeckte, würde zugleich die Geltung der Normen ruinieren.“ Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies