Alle Menschen streben nach Glück

Die Frage nach dem Glück steht im Zentrum aller großen Weisheitslehren der Menschheit. Schon Epikur erinnerte daran, dass alle Menschen nach Glück streben, egal wie es dann im Einzelnen aussehen mag. Frédéric Lenoir weiß: „Allerdings machen wir auch die Erfahrung, dass es so wenig greifbar ist wie Wasser oder Luft. Sobald man denkt, man habe es in der Hand, entwischt es einem wieder.“ Wenn man versucht es festzuhalten, läuft es davon. Manchmal entzieht es sich da, wo man es erhofft, und kommt in dem Augenblick wieder, in dem man es am wenigsten erwartet. Das große Paradoxon des Glücks ist, dass es ebenso widerspenstig wie zähmbar ist. Es hängt gleichermaßen vom Schicksal und von günstigen Zufällen ab wie von einem vernünftigen und willentlichen Handeln. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

Der Weise strebt nach Gelassenheit und Seelenruhe

Für die Philosophen der Antike, sei es in Indien, China oder Griechenland, findet sich Weisheit bei der Suche nach einem Zustand allumfassender und dauerhafter Zufriedenheit mit der eigenen Existenz. Frédéric Lenoir erläutert: „Diese Zufriedenheit hängt nicht von den Unwägbarkeiten des Lebens und somit auch nicht von den Ereignissen der äußeren Welt ab, sie entspricht vielmehr der Vorstellung von Glück als einem inneren Zustand.“ Oft gehen die antiken Philosophen von der Ambivalenz der Sinnesfreude aus, wenn sie von der Bedeutung von Glück sprechen.

Denn Sinnesfreude ist die Befriedigung eines Bedürfnisses oder Begehrens, doch dauert sie nicht an und hängt von äußeren Umständen ab. Der Weise erstrebt allerdings einen dauerhaften Zustand der Zufriedenheit, der nicht allein von äußeren Umständen wie Ansehen, Beziehung, Reichtum usw. abhängt. Für Epikur wird beispielsweise dieses Ideal dank der praktischen Vernunft erreicht, die einem bei der Mäßigung und Eingrenzung der Sinnesfreuden hilft, damit man in einem Zustand von Gelassenheit und Seelenruhe leben kann.

Der Weise liebt das leben bedingungslos

Für Buddha zum Beispiel ist wichtig, dem Begehren und Verlangen zu entsagen, das nur Frustration und Leiden schafft, und zu guter Letzt einen Glückszustand durch die Erleuchtung zu finden. Im Grunde geht es darum, dass man sich bewusst wird, nicht das Ich zu sein, mit dem man sich spontan identifiziert. Frédéric Lenoir definiert das Weisheitsideal folgendermaßen: „Statt zu versuchen, die Welt seinen Begierden anzupassen, formt der Weise seine Begierden so um, dass sie sich der Welt bzw. der Wirklichkeit anpassen.“

Der Weise lernt, das Leben bedingungslos zu lieben und nicht nur dann, wenn ihm die Umstände gewogen sind. Das Weisheitsideal und die darüber vermittelten Glücksvorstellung stehen genau im Gegensatz zu der in der heutigen materialistischen und konsumorientierten Gesellschaft am weitesten verbreiteten Vision vom Glück: der Beste sein, der Wettbewerbfähigste, der Reichste, der Bekannteste usw. Diesem zeitgenössischen Imperativ des „immer mehr“ stellt Weisheit die Suche nach dem „besseren Sein“ gegenüber. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir

Von Hans Klumbies