Yuval Noah Harari stellt das neue Shopping-Zeitalter vor

Die moderne Wirtschaft setzt auf ein konstantes Wachstum der Produktion. Sie muss immer mehr produzieren, weil sie ansonsten in sich selbst zusammenfallen würde. Aber die Produktion alleine reicht natürlich nicht. Yuval Noah Harari erklärt: „Irgendjemand muss diese Erzeugnisse auch kaufen, denn sonst gehen Fabrikanten und Investoren pleite. Um diese Katastrophe abzuwenden und sicherzustellen, dass die Menschen die Masse aus produzierten Waren auch kaufen, entstand eine völlig neue Ethik: der Konsumismus.“ In früheren Jahrhunderten lebten die meisten Menschen in einer Situation des Mangels. Das Zauberwort war damals Sparsamkeit. Yuval Noah Harari nennt als Beispiele die asketische Lebensweise der Puritaner und Spartaner. Ein guter Mensch vermied den Luxus, warf keine Lebensmittel weg und reparierte Gegenstände, bevor er sich neue besorgte. Nur Könige und Adlige konnten es sich leisten, ihren Reichtum zur Schau zu stellen.

Shopping zählt zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen

Als die industrielle Revolution das Problem des Mangels behoben hatte, stellte sich plötzlich die Frage, wer die ganzen Produkte eigentlich kaufen sollte. Dadurch entstand die revolutionäre Ethik des Konsumismus. Yuval Noah Harari erläutert: „Der Konsumismus bewertet den Konsum von immer mehr Produkten und Dienstleistungen positiv. Er fordert die Menschen auf, sich etwas zu gönnen und redet ihnen ein, Sparsamkeit sei ein Komplex, von dem man sich frei machen müsse.“ Im Zusammenspiel mit der populären Psychologie hat der Konsumismus die Menschen davon überzeugt, dass Genuss gut und Sparsamkeit eine Form der Selbstkasteiung ist.

Heute sind die meisten Menschen brave Konsumenten. Sie kaufen unzählige Produkte, die sie eigentlich gar nicht brauchen und von denen sie bis gestern gar nicht wussten, dass es sie überhaupt gibt. Yuval Noah Harari kritisiert: „Hersteller erfinden bewusst Produkte mit kurzer Lebensdauer und entwickeln ständig neue Modelle von im Grunde völlig ausreichenden Produkten.“ Diese Gegenstände braucht kein Mensch. Dennoch kauft man sie, um „in“ zu bleiben. Shopping ist zu einer der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen geworden.

Die Reichen investieren und die Armen kaufen

Konsumgüter zählen inzwischen zu den unersetzlichen Vermittlern zwischen Angehörigen, Partnern und Freunden. Selbst einst religiöse Festtage wie Weihnachten sind zu Einkaufsfesten mutiert. Laut Yuval Noah Harari wir der Sieg des Konsumismus bei den Nahrungs- und Genussmitteln vielleicht am deutlichsten. Traditionelle Gesellschaften lebten immer im furchtbaren Schatten des Hungers. In den reichen Ländern von heute ist das größte Gesundheitsproblem dagegen das krankhafte Übergewicht, das Arme noch stärker trifft als Reiche.

Allein in den USA geben die Menschen jedes Jahr mehr Geld für Diäten aus als nötig wäre, um die Hungernden im Rest der Welt zu ernähren. Fettsucht ist für Yuval Noah Harari ein zweifacher Sieg des Konsumismus: „Statt weniger zu essen, was ja zu einer Schrumpfung der Wirtschaft führen würde, essen wir erst zu viel, kaufen dann Diätprodukte und tragen auf diese Weise gleich doppelt zum Wirtschaftswachstum bei.“ Das oberste Gebot der Reichen lautet: „Du sollst investieren.“ Und das oberste Gebot für den Rest der Menschheit lautet: „Du sollst kaufen.“

Von Hans Klumbies