Jeder hält hartnäckig an seinem Körperbild fest

Das Ich-Bewusstsein eines Menschen entwickelt bei seinem Erwachen zwischen dem 14. und 20. Lebensjahr ein Körperbild, an dem es sehr hartnäckig festhält. Daher richten sich an die Heilkunst im Allgmeinen und an die Chirurgie im Besonderen Erwartungen, die auf die Erhaltung und Wiederherstellung dieses Körperbilds hinauslaufen. Sie behaupten sie energisch gegen die Realität. Wolfgang Schmidbauer weiß: „Das chirurgische Modell der Behandlung des narkotisierten Patienten kann kein Vorbild einer psychotherapeutischen Intervention sein.“ Es ist bereits für die medizinische Praxis nur begrenzt tragbar. Ein Anspruch an die Heilkunde, die durch einen Mangel an Selbstfürsorge entstandenen Schäden zu beheben, überlastet alle Beteiligten. Der menschliche Körper ist beides, Grundlage des Selbsterlebens und erlebtes Werkzeug des Ich, mit denen man pfleglich oder nachlässig umgehen kann. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer ist Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher, die sich millionenfach verkauften.

Die Selbstheilungskräfte sind immer noch ein Rätsel

Bei einem Werkzeug kostet Nachlässigkeit nur Rohstoff und Energie. Beim eigenen Körper sind die Schäden schnell angerichtet und mühsam zu beheben. Aus der genauen Beobachtung von Störungen lernt ein Mensch seinen Körper kennen. Dadurch gewinnt er ein elementares Wissen über seine Selbstheilungskräfte. Wolfgang Schmidbauer stellt fest: „Diese sind ein bis heute nur in Ansätzen erforschtes Rätsel. Immer noch ist an dem Bonmot viel Wahres: Medizin ist ein System von Ablenkungen, bis der Kranke von selbst gesund wird.“

Wer sich beispielsweise den Magen verdorben hat, kann dem Arzt sagen, dass ihm schlecht ist und er ein Medikament dagegen haben möchte. Oder der Betroffene kann die eigene Übelkeit befragen und aus ihr Hinweise gewinnen. Woran könnte es liegen, was ihm schwer im Magen liegt und was er künftig meiden sollte. Ähnliches gilt für Schmerzen von Muskeln und Gelenken: Sie entspringen oft der Achtlosigkeit gegenüber Unbehagen und leichten Schmerzen. Ein aufmerksames und entlastetes Ich würde sie als warnende Signale verstehen.

Die Zuflucht beim Guru ist der falsche Weg

Viele Menschen sehen den Schmerz als einen Feind, ein Hindernis, das ihre Erwartungen durchkreuzt, gegen die das Ich ankämpfen will. Solche Haltungen, eine wichtige aber nicht die einzige Ursache von Depressionen, werden in einer Leistungsgesellschaft schon früh eingeübt. Überall schwärmen Lehrer, Motivationstrainer und Vorgesetze davon, die Komfortzone zu verlassen. Es gilt den inneren Schweinehund wegzusperren und über die eigenen Grenzen hinauszuwachsen.

Die Kunst der Selbstreparatur liegt darin, den Weg zwischen dem Pol der Expertenhörigkeit und dem Gegenpol der Nachlässigkeit zu finden. In einer Welt von Spezialisten ist die Versuchung groß, diesen entweder blind zu vertrauen oder sich ganz von ihnen abzuwenden. Problematisch ist für Wolfgang Schmidbauer eine Zwischenlösung: das Sektieren. Wer dem eigenen Urteil ebenso wie dem Medizinsystem misstraut, such Zuflucht bei einem Guru. Denn dieser behauptet von sich, den richtigen Weg zu kennen und alle Krankheiten zu heilen. Quelle: „Die Kunst der Reparatur“ von Wolfgang Schmidbauer

Von Hans Klumbies