Das Soziale einer Gesellschaft ist relativ stabil

Wären alle Innovationen, von denen heute die Rede ist, wirklich innovativ, wäre das Leben grauenhaft. So viel Neues hielte niemand aus. Wenn alles so voll von Neuerungen wäre, wie es die Werbung und der Zeitgeist verheißen, müsste man sein Leben praktisch jeden Tag neu erfinden. Und dies schafft auch der größte Innovationsfreund nicht. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Angesichts der Omnipräsenz der Rhetorik der Innovation drängt sich geradezu der Verdacht auf, dass so viel von Innovationen die Rede sein muss, weil uns nicht wirklich viel Neues mehr einfällt.“ Schon das Alte Testament ist von einer grundlegenden Skepsis gegenüber dem Neuen erfüllt. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Die Formen des Tötens muten atavistisch an

Friedrich Nietzsche hat dieser Haltung durch seine Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine letzte, umstrittene Gestalt gegeben. Die Skepsis gegenüber dem Neuen ist älter, viel älter als die Begeisterung für den Zyklus der Innovationen, die für die Gegenwart kennzeichnend ist. Allerdings bezieht sich die Bibel als auch der Verfasser des „Zarathustra“ dabei auf das, was geschieht: auf das Handeln der Menschen, auf ihre Konflikte, auf die Art und Weise, wie sie ihre Beziehungen und die sozialen Formen ihres Zusammenlebens organisieren.

Dass die Gewalt für viele Menschen noch immer ein Mittel zur Lösung sozialer und politischer Konflikte zu sein scheint, bis hin zu atavistisch anmutenden Formen des Tötens, müsste eigentlich an der sozialen Innovationskraft der Menschen zweifeln lassen. Hier geschieht wahrlich nichts Neues unter der Sonne. Dies ist übrigens auch ein Grund, warum man Dokumente längst vergangener Epochen noch immer verstehen, ja mit Gewinn studieren kann. Dennoch sind viele Menschen davon überzeugt, dass keine Gesellschaft sich so rasant und nachhaltig wandelt wie die gegenwärtige.

Technologien begründen neue Lebensformen

In erster Linie setzt man bei den Innovationen auf neue Technologien. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Diese sind es, die unser Leben verändern. Letztlich begründen Innovationen auch eine Lebensform: bereit sein für das Neue, von früh an. Das heißt nicht unbedingt, einen neuen Gedanken riskieren oder nach neuen Lösungen für soziale, ökonomische oder politische Konflikte zu suchen. Sondern offen zu sein für eine neue Generation von Geräten und den damit verbundenen erhofften Wandel der Gesellschaft.“

Fraglich ist für Konrad Paul Liessmann, ob im Bereich des sozialen Lebens überhaupt sinnvoll von Innovationen gesprochen werden kann. Natürlich gibt es in diesem Feld Transformationen. Es vollzieht sich ein Wandel von Wertvorstellungen. Soziale und politische Strategien ändern sich. Neue Ideen und die Geschichte ihrer politischen oder sozialen Durchsetzung entstehen. Aber sehr viele soziale Einrichtungen einer Gesellschaft erscheinen außerordentlich stabil, ändern oft nur ihre Form und Gestalt oder kehren in Variationen immer wieder. Konzepte wie Ehe, Familie, Herrschaft, Demokratie, Tyrannei, rhetorische Figuren, Formen des kommunikativen Handelns haben sich seit Jahrtausenden nur wenig gewandelt. Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies