Grausamkeit sollte eigentlich unmöglich sein

Die Grausamkeit gehört für Friedrich Nietzsche zur ältesten Festfreude der Menschheit. Auf der anderen Seite sollte Grausamkeit eigentlich unmöglich sein. Denn es dürfte sie nicht geben, wo es menschlich zugehen soll. Wolfgang Müller-Funk weiß jedoch auch: „Wer sich mit der systematischen Quälerei anderer Menschen, Individuen oder Gruppen, beschäftigt, droht von ihr angezogen zu werden.“ Unmöglich ist die Grausamkeit aber ebenso, weil es schwer ist, sich unvoreingenommen mit ihr zu beschäftigen. Der Schrecken vor ihr führt leicht dazu, sie zu verkennen. Die Aussage, dass Grausamkeit unmenschlich ist, geht leicht von den Lippen. Doch die Entgegensetzung von „menschlich“ und „unmenschlich“ ist fragwürdig. Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.

Hannah Arendt entwickelt die Formel der „Banalität des Bösen“

Beide Prädikate fallen in der Grausamkeit nämlich auf verblüffende und erschreckende Weise zusammen. Moralische Empörung und Ablehnung ist die verständlichste Reaktion. Aber sie führt leicht dazu, sich nicht auf sie einzulassen. Sie wird dann den Anderen zugeschrieben, wodurch das eigene grausame Potenzial kaum ins Blickfeld rückt. Entgegen aller humanistischen Hoffnungen sind die kollektiven, politisch insinuierten Verbrechen, an denen die Grausamkeit maßgeblichen Anteil hat, nicht aus dieser Welt verschwunden.

Vor diesem Hintergrund ist Hannah Arendts provokante, auf den bürokratischen Vollstrecker Adolf Eichmann gemünzte Formel von der „Banalität des Bösen“ zu verstehen. Durch den Verweis auf die Banalität wird das Böse gegenüber Anderen zu einer allgemeinen Tatsache, die nicht länger von der Aura des Außerordentlichen zehrt. Hannah Arendt stellt den Exekutor des Massenmords als einen erschreckend normalen, eben banalen und keineswegs besonderen Menschen dar.

Der Mensch verfügt über einen Trieb zur Unmenschlichekeit

Die Psychologie und die Anthropologie insistieren mehrheitlich und auf unbequeme Weise darauf, dass die Bereitschaft zur zielgerichteten Gewalt ein durchaus typisch menschliches Verhalten darstellt. Es handelt sich dabei also nicht um eine versehentliche und seltene Randerscheinung. Michel de Montaigne schreibt in einem seiner Essays: „Die Natur selbst, fürchte ich, hat dem Menschen einen Trieb zur Unmenschlichkeit mitgegeben.“ An anderer Stelle schreibt er: „Unter anderen Lastern hasse ich grausam die Grausamkeit sowohl von Natur als aus Vernunft, als das allerschändlichste von allen.“

Wolfgang Müller-Funk stellt fest: „Hier deutet sich eine Gegenposition an, die einer unerschrockenen Autobiographie des Menschen verpflichtet ist. Sie setzt stets die Selbstanalyse der Einzelnen, die der Gewalt ins Auge sieht, ohne ihr zu erliegen, voraus.“ Der ganze Gestus des essayistischen Schreibens von Michel de Montaigne zielt darauf ab, die Aggression im Schreiben abzuarbeiten. Sie leistet Verzicht auf Fixierung und vermeidet jede Form von Polarisierung, die auf Verächtlichmachung des Anderen hinausläuft. Quelle: „Crudelitas“ von Wolfgang Müller-Funk

Von Hans Klumbies