Der Mensch verdankt der Vernunft nicht nur die ins Unendliche ausgreifenden Ideen, sondern auch so gut wie alle ihn selbst betreffenden Einheiten der eigenen Lebensführung. Beispiele sind der Leib und seine Gesundheit, der Organismus in seiner prozeduralen Einheit. In dieser erneuert und verändert sich alles fortlaufend. Erst recht ist die Person für die Vernunftbegriffe der Menschheit und der Humanität von besonderer Bedeutung. Volker Gerhardt fügt hinzu: „Eine letzte, unüberbietbar praktische Bedeutung erlangt die Vernunft im ernsthaft verstandenen Begriff menschlicher Existenz.“ Dass auch sie mit den Mitteln der Vernunft als Ganzheit verstanden wird, ist offensichtlich. Aber das die Vernunft nicht nur als organisierende, sondern sogar als antreibende Kraft selbst bis zum tödlichen Ende begriffen werden, muss man sich erst vor Augen führen. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Die Vernunft hat nicht nur eine orientierende Funktion
Angesichts der Todesgrenze kann es unter den Bedingungen einer vernunftgeleiteten Einsicht zu einer als absolut erfahrenen Hinwendung zu einem Ganzen kommen. Diesem sucht der Mensch – sogar noch im Sterben – als ein Ganzes zu entsprechen. Darauf ist das „Sterben lernen“ des Sokrates begründet. Also zeigt sich für Volker Gerhardt, dass man die praktische und soziale Leistung der Vernunft nicht ausreichend erfasst, wenn man ihr lediglich eine orientierende Funktion zuschreibt.
Die Vernunft ermöglicht ein existenzielle Hingabe eines sich seiner Einheit bewussten Menschen an ein als wertvoll angesehenes Ganzes. Als Ganzes kann man vieles verstehen. Zum Beispiel eine geliebte Person, eine Familie, eine politische Gemeinschaft oder der Bestand einer Kultur. Daran können die Politik, die Kunst, die Religion oder die Wissenschaft ihren Anteil haben. Und es ist offensichtlich, dass hier gleichermaßen emotionale wie rationale Antriebe eine Rolle spielen.
Die Vernunft setzt Ziele und rät Mittel an
Unter dem Anspruch der Vernunft entwickeln sich Motive und Gründe zu individuell und kollektiv wirksamen Kräften. Ohne diese käme es nicht zu den personalen, sozialen, politischen, kulturellen und künstlerischen Einheiten. Diese lassen das menschliche Dasein vertraut und unverzichtbar erscheinen. Mit den Gründen ist das Ganze einer geglaubten gesellschaftlichen Realität zum Element des Selbstverständnisses des Menschen geworden. Dieser nimmt sie ernst und dies keineswegs nur so weit, als er sich mit seinesgleichen verständigt.
Volker Gerhardt stellt fest: „Gerade das Selbstverständnis eines einzelnen Menschen, der sich, ganz auf sich gestellt, seiner Aufgabe widmet, bedarf starker Gründe.“ Und erst dort, wo ein solches auf sich selbstbegründetes Selbstverständnis vorliegt, kann in vollem Sinn von Selbstbestimmung gesprochen werden. Vernunft also ist die Ziele setzende und Mittel anratende Instanz in den bewussten Akten des individuellen Daseins. Selbst und gerade dort, wo es um die singulären Akte von Wagnis und Widerstand geht. Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt
Von Hans Klumbies