Tony Judt und Timothy Snyder sprechen über das 20. Jahrhundert

Tony Judt verbindet in seinem Buch „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“, das in Zusammenarbeit mit Timothy Snyder entstand, die persönliche Erinnerung mit der kenntnisreichen und kritischen Darstellung der großen politischen Ideen der Moderne wie Kommunismus, Liberalismus und Faschismus. Im Vorwort bezeichnet Timothy Snyder das gemeinsame Werk als Geschichte, Biographie und moralphilosophische Abhandlung. Er schreibt: „Es ist eine politische Ideengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, in der es um die Themen Macht und Gerechtigkeit geht.“ Das  Buch ist zugleich die intellektuelle Biographie des Historikers und Essayisten Tony Judt. Timothy Snyder vertritt die These, dass Tony Judt der einzige war, der eine so breit angelegte Ideengeschichte schreiben konnte. Der britische Historiker Tony Judt lehrte in Cambridge, Oxford und Berkeley. Er starb 2010 in New York. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder lehrt an der Yale University.

Die Massendemokratie bringt tendenziell mittelmäßige Politiker hervor

Der Form nach ist das Buch „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“ ein langes Gespräch zwischen Tony Judt und Timothy Snyder. Jedes Kapitel des gemeinsamen Werks hat einen biographischen und einen historischen Teil. Gegliedert hat das Autorenduo das Buch in 9. Kapitel. Es beginnt mit der jüdischen Kindheit von Tony Judt, setzt sich fort über sein Außenseitertum in England bis hin zu seinem Umzug von Paris nach Kalifornien. Im 6. Kapitel erläutert er sein Verständnis von Osteuropa, während er gegen Ende des Buches seinen Weg zum amerikanischen Moralisten beschreibt und über die Banalität des Guten philosophiert.

Im Kapitel „Amerikanischer Moralist“ stellt Tony Judt fest, dass die Demokratie weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für eine gute, offene Gesellschaft ist. Er möchte dabei allerdings nicht als der große Skeptiker der Demokratie erscheinen, aber mit Bezug auf Isaiah Berlin verkünden, dass die Menschen anerkennen müssen, dass einige ältere nichtdemokratische Gesellschaften in gewisser Weise besser waren als die modernen Demokratien. Sorgen bereitet Tony Judt vor allem, dass die Massendemokratie tendenziell mittelmäßige Politiker hervorbringt.

Eine wohlwollende historische Rückschau kann das 20. Jahrhundert nicht erwarten

Im letzten Abschnitt beantwortet Tony Judt unter anderem die Frage, was Privatisierung bedeutet. Seiner Meinung nach entlässt sie den Staat aus der Verantwortung, die Defizite im Leben der Menschen wettzumachen. Er fügt hinzu: „Sie entlässt auch die Bürger aus der Verantwortung, sich für Probleme in der Gesellschaft zuständig zu fühlen. Was bleibt, ist Wohltätigkeit, die sich aus Schuldbewusstsein speist.“ Tony Judt nimmt an, dass dieser karikative Impuls eine völlig unzureichende Antwort auf die Probleme einer reichen Gesellschaft ist, in der die Mittel ungleich verteilt sind.

Im Nachwort fasst Tony Judt seine Gedanken über das 20. Jahrhundert noch einmal zusammen, einer Epoche, die mit einem katastrophalen Weltkrieg begann und mit dem Zusammenbruch der meisten ihrer Ideologien endete. Tony Judt stellt fest: „Eine wohlwollende historische Rückschau kann das Zeitalter nicht erwarten. Vom Massaker an den Armeniern bis zum Völkermord in Bosnien, vom Aufstieg Stalins bis zum Ende Hitlers, von den Schlachtfeldern Flanderns bis nach Korea – das zwanzigste Jahrhundert ist ein gnadenloses Narrativ von menschlichem Unglück und kollektivem Leid, aus dem wir trauriger, aber klüger hervorgegangen sind.“

Nachdenken über das 20. Jahrhundert
Tony Judt / Timothy Snyder
Verlag: Hanser
Gebundene Ausgabe: 412 Seiten, Auflage: 2013
ISBN: 978-3-446-24139-8,  24,90 Euro
Von Hans Klumbies