Der Zauber des Abendlands liegt im Widerstreit begründet

Nach wie vor hält es Thea Dorn für fragwürdig, wenn beim Reden über Europa Wohlstand und Frieden so massiv in den Vordergrund gestellt werden. Selbstverständlich sind beide wertvolle Errungenschaften. Es ist ein Segen, dass das heutige Europa weder von Hunger und Seuchen noch von blutigen Glaubens-, Ideologie- oder Territorialkriegen verwüstet wird. Dennoch ist Thea Dorns Europa in erster Linie ein geistig-kultureller und freiheitlicher Kontinent. Thea Dorn schreibt: „Wenn ich den eigentümlich unruhigen und dynamischen Zauber des Abendlands mit einem Wort benennen sollte, würde ich sagen: Er liegt im Widerstreit begründet.“ Das europäische Denken nahm seinen Anfang mit fragmentarisch überlieferten Reflexionssplittern wie denen des Vorsokratikers Heraklit. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Prometheus und Jesus haben die Entwicklung des Abendlands entscheidend geprägt

Ein Antagonistenpaar hat die Entwicklung des Abendlands so entscheidend bestimmt wie kein zweites. Auf der einen Seite steht Prometheus, jener Gott, der – glaubt man der griechischen Mythologie – den Menschen das Feuer brachte und damit ihre Revolte gegen das Schicksal, gegen ihr ohnmächtiges Unterworfensein unter göttliche und natürliche Mächte, unlöschbar entfachte. In diesem Sinne ist Prometheus der Ahnherr der Zivilisation und des technologischen Fortschritts.

Auf der anderen Seite steht Jesus, der Sohn des biblischen Gottes, der den Willen seines Vaters erfüllte, indem er sich für die sündige Menschheit ans Kreuz schlagen ließ. Er ist der Ahnherr nicht nur des Christentums, sondern aller abendländischen Demut. Dass der jüdische Christ Jesus mit Prometheus in einem engeren Verhältnis steht, als man auf Anhieb meinen könnte, zeigt sich daran, dass auch der griechische Revoluzzergott als „Angenagelter“ endet. Der antike Obergott Zeus lässt den Feuerdieb zur Strafe für seinen Frevel an eine Felswand im Kaukasus ketten, wo ein Adler ihm täglich von der ewig nachwachsenden Leber pickt.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Thea Dorn fügt hinzu: „Es gibt aber noch ein zweites Indiz, dass Jesus und Prometheus sich über die Jahrhunderte und ihre große räumliche Distanz hinweg trotzdem begegnet sein könnten: Prometheus trägt in der griechischen Mythologie den Beinamen „Phosphoros“, auf Deutsch: „Lichtbringer“.“ In der christlichen Mythologie hat der Teufel viele Namen, aber einer sticht besonders hervor: „Luzifer“. Und „Luzifer“ ist nichts anderes als die lateinische Übersetzung von „Phosphoros“.

Die Evangelisten Matthäus und Lukas berichten davon, wie der Teufel Jesus in der Wüste auflauert, um ihn in Versuchung zu führen. Den Streit zwischen trotzigem Aufbegehren und demütiger Ergebenheit tragen sie auch anhand der Frage aus, ob ein Wesen – in diesem Falle Jesus – seine übermenschlichen Kräfte dazu nutzen soll, Steine in Brot zu verwandeln. Luzifer ist unbedingt dafür. Die heutige Lebensmittelindustrie folgt ihm, wenn sie versucht, Nahrungsmittel künstlich herzustellen oder wenigstens zu optimieren. Jesus hingegen sagt den berühmten Satz, dass der Mensch nicht nur vom Brot lebe, sondern wesentlicher noch von Gottes Wort. Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies