In der neuen Serie „Bloodline“ gibt es eine Szene, in der Sissy Spacek wie ein Profi singt. Das liegt daran, dass sie lange bevor sie Schauspielerin wurde, Sängerin war, aber leider keine sehr erfolgreiche. Heute singt sie öfter die Background-Vocals für ihre Tochter Schuyler ein, die Folksängerin ist. Und sonst ist es so: „Wenn ich von irgendwoher Gesang höre, steige ich immer mit ein und manchmal trägt es mich davon.“ Sissy Spacek gerät dann in einen zeitlosen Zustand, den sie auch vom Schauspielen her kennt. Dann spielt die Szene sie und nicht umgekehrt. Manchmal sagen dann die Regisseure zu ihr: „Toll, kannst du das genauso noch einmal machen?“ Und sie antwortet dann: „Was denn? Ich erinnere mich an nichts.“ Es ist für Sissy Spacek eine außergewöhnliche Erfahrung, absolut zauberhaft, ein Flow. Oft passiert aber auch nichts. Dann singt sie und verliert sich nicht.
Junge Schauspieler werden heute gejagt
Den Zustand des Flows muss sich aber auch Sissy Spacek erarbeiten. Dafür geht sie eine Szene Schritt für Schritt durch, auch die Sätze Wort für Wort. Dann findet sie eine Schiene, an der sie entlangläuft. Sie weiß, irgendwann wird der Zug kommen, der sie mitreißt. Sissy Spacek sagt: „Erwische ich den richtigen Moment, springe ich auf, und es trägt mich davon. Verpasse ich ihn, überrollt mich der Zug, und die Szene ist kaputt.“ Sissy Spacek ist seit gut vierzig Jahren mit dem Stardesigner Jack Fisk verheiratet und wohnt seit 1982 auf einer Farm in Virginia.
Sissy Spacek liebt die Abgeschiedenheit des Landlebens, denn es ist unglaublich belastend, wenn man unter ständiger Beobachtung der Öffentlichkeit steht. Sie erklärt: „Ich bedauere junge Schauspieler heute sehr. Sie werden gejagt. Als ich in dem Alter war und mich danebenbenahm, hat das kaum jemand gemerkt.“ Auch Sissy Spacek hat als Jugendliche hier und da mal zu viel getrunken und gefeiert. Viele Menschen machen ja dumme Dinge aber ebenso großartige. Wenn man für jede kleine Verfehlung harsch verurteilt und an den Pranger gestellt wird, verschluckt einen das.
Auf dem Land dehnen sich die Gedanken weiter aus
Das Haus von Sissy Spacek ist ein organisches, lebendes Wesen. Zudem eine Art Museum. Ein wildes Sammelsurium ihres bisherigen Lebens, gekreuzt mit Kunstwerken ihrer beiden Töchter. Dazwischen Hunde und Katzen. Sissy Spacek erläutert: „Meine liebsten Schätze sind eine ausgestopfte Krötenechse aus Malicks „Badlands“ und der billige Schmuck, den sie in dem Film als Holly trug, in ihrer ersten großen Rolle.
In einem Interview mit Andy Warhol sagte Sissy Spacek einmal, dass sie in den Wald ginge, um Offenbarungen zu empfangen. Sie tut das noch immer, weil sie darin Trost findet, wenn sie durch Wälder und über Wiesen wandert. Sissy Spacek ergänzt: „Ich finde auch die Reizüberflutung in Städten belebend, aber auf dem Land dehnen sich Gedanken weiter aus, sie reisen länger, bevor sie mit etwas zusammenstoßen.“ Am liebsten geht sie nach draußen, wenn die Dämmerung hereinbricht – zur Blue Hour, wie man in Amerika sagt. Alles ist dann wie verzaubert.
Kurzbiographie: Sissy Spacek
Sissy Spacek, 65, wurde durch ihre Hauptrollen in Terrence Malicks „Badlands – Zerschossene Träume“ und Brian De Palmas „Carrie“ berühmt. Für ihre Rolle als Countrysängerin Loretta Lynn im Film „Nashville Lady“ bekam sie einen Oscar verliehen. Aktuell ist sie als Mutter einer Großfamilie, die ein dunkles Geheimnis umgibt, in der Serie „Bloodline“ auf Netflix zu sehen. Quelle: Süddeutsche Zeitung Magazin
Von Hans Klumbies