Die Masse ist unfähig zu einem eigenen Urteil

Silvio Vietta stellt fest: „Das 19. und auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts waren keine glücklichen Zeiten für Europa und die Weltgemeinschaft.“ Demographisch nahm die Bevölkerung in Mitteleuropa dramatisch zu. Das ging einher mit einer enormen Urbanisierung, auch Proletarisierung der Bevölkerung. Sie bildete den Hintergrund für jene Theorie der „Masse“, wie sie Gustave le Bon in seinem Buch „Psychologie der Massen“ von 1895 beschrieben hat. Dabei handelt es sich um einen Typus der denkunfähigen und denkunwilligen Masse. Diese ist nach Gustave le Bon unfähig zu eigenem Urteil. Daher ist sie anfällig für suggestive Wörter, Bilder und emotionale Rede und somit Wachs in den Händen von Diktatoren. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

Der Totalitarismus heiligte seine Führer

Zur Entpolitisierung der Masse gehörte auch eine säkular-religiöse Aufputschung der Sprache der Politik. Diese tauchte bereits im Pathos des Nationalismus auf und heiligte das eigene Volk wie die eigene Nation. Das begann in Deutschland bereits mit Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, also kurz nach dem Einmarsch Napoleons nach Preußen. Im Ersten Weltkrieg reklamierten praktisch alle großen Nationen, Gottes Nation zu sein und daher politisch seinen Willen zu verkörpern.

Vor allem die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts vereinnahmten aber dann im großen Stil säkular religiöse Rituale und „heiligten“ ihre Führer. Die Partei, auf der einen Seite die nationalsozialistische, auf der anderen die kommunistische, betrachte man als eine neue Kirche. Diese sollte ins „tausendjährige Reich“ beziehungsweise ins „kommunistische Paradies“ führen. Eric Voegelin hat das bereits 1938 treffend als „politische Religionen“ genannt. Die Moderne mit ihrer rasanten Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Ökonomie führt auch zu einer Sinnkrise.

In Deutschland blühten die Irrationalismen

Friedrich Nietzsche kennzeichnete diese mit dem Begriff des „Nihilismus“. Silvio Vietta erklärt: „In Deutschland führte das um 1900 zu einer regelrechten Schizophrenie. Einerseits war das Land Weltmeister in Sachen Rationalitätsentwicklung in Wissenschaft, Technik, Ökonomie. Andererseits blühten gerade hierzulande die Irrationalismen.“ Es gibt dieses Problem aber auch heute, wenn gerade in hochindustrialisierten Ländern junge Menschen sich auf dem linken oder rechten Spektrum radikalisieren.

Solche Sinnkrisen der Moderne im Verbund mit der ökonomisch-technischen Zivilisation schaffen Anfälligkeiten für irrationale politische Ersatzreligionen. Für die Demokratien in Europa – mit Ausnahme Englands – war das frühe 20. Jahrhundert also eine Geschichte zunehmender humanitärer Katastrophen und auch zweier Weltkriege. Bekanntlich musste die Demokratie, nach schwachen Anfängen in der Weimarer Republik, nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA nach Europa reimportiert oder überhaupt erst in Mitteleuropa gepflanzt werden, um sich dann aber dort stabil zu entwickeln. Quelle: „Europas Werte“ von Silvio Vietta

Von Hans Klumbies