Die Arbeit am Mythos ist niemals abzuschließen

Markus Gabriel unterscheidet in seinem Buch „Fiktionen“ zwischen Mythologie, Ideologie und Fiktion. Mythologie ist dabei die Wirksamkeit impliziter Vorbilder, was auf der Vorstellungsebene historisch in der Form eines theogonischen Bewusstseins aufscheint. In der Gegenwart besteht sie nicht zuletzt in Superheldenmythen und sonstigen Mythen des Alltags fort. Für den Philosophen Hans Blumenberg ist die Arbeit am Mythos niemals abzuschließen. Die Mythologie kann in einer Form auftreten, in der man die Wirklichkeit der Normen in eine archaische Vergangenheit verlegt. Markus Gabriel erklärt: „Dieser Vorgang macht uns potenziell zum Opfer einer Mythologie.“ Nämlich indem er ein Vorbild des Menschseins generiert, das in der Gegenwart handlungswirksam wird. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Die Ideologie ist ein Ideengebilde

Zudem unterbindet dieser Vorgang die Produktion neuer Handlungsoptionen und innovativer Möglichkeiten. Mythologisch ist demnach keineswegs nur das Homerische Pantheon, die hinduistische Götterwelt oder der katholische Heiligenkult. Sondern auch die paläanthropologische Erzählung, Menschen seien dazu prädestiniert zum Gegenstand neurowissenschaftlich abgesicherter, spieltheoretischer Prädikatoren zu werden. Wer die Handlungsform der Menschen in irgendeiner Vergangenheit gründet, denkt archaisch. Das archaische Denken ist nicht mit den Göttern Griechenlands untergegangen.

Es sucht die Menschen in der Form der neuen Mythologie des Menschen als Kulturaffen heim. Diese hat die nützliche Funktion, den Ausbruch des Individuums aus dem imaginären „Menschenpark“ zu unterbinden. Im Unterschied zu Mythologie ist eine Ideologie ein Ideengebilde. Dessen Funktion besteht darin, eine gegebene asymmetrische Verteilung von sozio-ökonomischen wertvollen Ressourcen zu rechtfertigen. Das ideologische Denken bedient sich dabei gerne eines mythologischen Unterbaus. Denn das archaische Denken ist aufgrund seiner Heteronomie besonders geeignet, die im Übrigen offensichtlichen Probleme der Gegenwart auszublenden.

Auch die Philosophie ist vor der Ideologie nicht sicher

Markus Gabriel weiß: „Ideologie macht nicht vor den Portalen der Philosophie halt. Ein philosophisch bedeutsames Beispiel einer Ideologie sind die Konstellationen des mentalen Fiktionalismus.“ Denn sie zeichnen ein Selbstporträt des begrifflichen Vermögens als Kognitionen. Dieser „terminus technicus“ dient dazu, ein verzerrtes Selbstbild des Menschen als die ganze Wahrheit über das, was Individuen wirklich sind, zu verkaufen. An die Stelle solcher objektstufigen Erzählungen über den Menschen, tritt dann der Begriff der „Fiktionen“.

Dieser erlaubt, den Sinn des menschlichen Denkens zu charakterisieren. Markus Gabriel erläutert: „Der Mensch wird an seiner Selbstbildfähigkeit und nicht an einer gegebenen imago gemessen, wie sehr sie sich auch wissenschaftlich auszuweisen meint.“ Soziale Netzwerke haben dabei die Funktion, den Handlungsspielraum der vernetzten Akteure systematisch einzuschränken. Denn die Zurschaustellung des eigenen Selbstmodells führt zur Vorhersagbarkeit des künftigen Verhaltens. Quelle: „Fiktionen“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies