Probleme sind oft schlecht formuliert

Zu allen Zeiten gab es geniale Eingebungen, die zu großen Fortschritten geführt haben. Diese entstanden jedoch nicht aus Entdeckungen neuartiger Lösungen für wohlbekannte Probleme. Carlo Rovelli betont: „Sie entstanden aus der Erkenntnis, dass das Problem schlecht formuliert war. Aus diesem Grund kann der Versuch, wissenschaftliche Revolutionen als Lösungen wohldefinierter Probleme zu erklären, nicht funktionieren.“ Die Wissenschaft macht Fortschritte, indem sie Probleme löst. Und die Lösung impliziert in den allermeisten Fällen eine Neuformulierung des Problems selbst. Anaximander löste keine offene Frage der babylonischen Astronomie. Ihm wurde klar, dass das babylonische Denken das Problem war und es galt, die Frage umzuformulieren. Er erklärte nicht, wie sich der Himmel über den Köpfen der Menschen bewegt, sondern er verstand, dass der Himmel nicht nur über den Köpfen der Menschen liegt. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Die Planeten bewegen sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit

Ptolemäus löste keine technischen Probleme innerhalb von Hipparchs System, indem er neue Bahnen entdeckte, auf denen sich die Planeten mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegen konnten. Vielmehr postulierte er, dass sich die Planeten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegten. Kopernikus erklärte nicht die seltsamen Zufälle des Ptolemäischen Systems im Hinblick auf die von Platon diktierten Spielregeln. Diese bestanden darin, die Himmelserscheinungen anhand einfacher Planetenbewegungen zu erklären.

Kopernikus veränderte das Spiel komplett und setzte die Erde in Bewegung. Ganz ähnlich löste Charles Darwin ein Problem, das für die Biologie des 19. Jahrhunderts gar kein Problem war. Denn seine Zeitgenossen waren überzeugt, die Antwort bereits zu kennen. Carlo Rovelli weiß: „All das gilt nicht nur für die großen Fortschritte in den Naturwissenschaften.“ In der alltäglichen wissenschaftlichen Forschung, selbst bei den bescheidensten und unbedeutendsten Unternehmungen ist ein Fortschritt nur selten eine Antwort auf ein wohlformuliertes Problem.

Die Erde bewegt sich um die Sonne

Häufiger besteht der Fortschritt in der Erkenntnis, dass man das Problem umformulieren muss, um eine Antwort zu finden. Um es nochmals zu sagen: Die Stärke der Naturwissenschaften besteht nicht darin, alternative Theorien zu entwickeln, um experimentelle Daten im Rahmen der Regeln des logischen Denkens zu erklären. Vielmehr ist es ihre Fähigkeit, sich auf die bereits existierenden Theorien zu stützen. Sie hinterfragt dieses Wissen jedoch ständig, modifiziert es und hält keinen seiner Aspekte für sicher oder unveränderlich.

Carlo Rovelli erklärt: „Daraus folgt, dass wissenschaftliche Theorien nicht unvergleichbar sind, wie uns manche zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophen gern glauben machen möchten.“ Theorien lassen sich durchaus miteinander vergleichen, einschließlich ihrer Unzulänglichkeiten, Approximationen und Fehler. Die Entdeckung von Kopernikus, dass sich die Erde um die Sonne bewegt, bleibt im Rahmen von Issac Newtons und Albert Einsteins Erkenntnissen gültig. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies