Zarathustra lehrt den Übermenschen

Zu Beginn des Buches „Also sprach Zarathustra“ steigt Zarathustra nach einer Phase der Meditation und Selbstreinigung von seinem Berg herab. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Er erniedrigt sich im Wortsinn und geht zu den Menschen, um ihnen eine bis heute umstrittene Weisheit mitzugeben.“ Er sagt: „Ich lehre euch den Übermenschen.“ Die Begründung für diese Lehre ist eindeutig: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“ Und dann, wie stets bei solchen Imperativen, die vorwurfsvolle Zusatzfrage: „Was habt ihr getan, ihn zu überwinden?“ Der Mensch in seiner rezenten Gestalt ist defizitär, ungenügend, etwas, was nicht sein soll. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

Der Übermensch ist der Sinn der Erde

Die Provokation für alle Optimierer von Zarathustra bis zu den Jüngern der Künstlichen Intelligenz liegt im puren Dasein eines Menschen, der besser nicht wäre. Jeder Aufruf zur Überwindung des Menschen muss deshalb einhergehen mit einer fundamentalen Kritik der bislang noch gültigen Lebensform. Zarathustra beginnt sanft: „Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde! Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!“

Zarathustra fährt fort: „Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“ Mensch sein heißt den Übermenschen wollen. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Damit ist an dieser Stelle noch gar keine großartige Selbstübersteigerung gemeint, sondern eher eine Rückbesinnung.“ Der Erde treu bleiben: Das ist vielleicht kein ökologischer, aber dennoch ein veritabler Materialismus. Übermensch heißt stark genug sein, um auf jene überirdischen Hoffnungen verzichten zu können, welche die Giftmischer aller Religionen bereithalten.

Die Religion ist das „Opium des Volkes“

Zu den überirdischen Hoffnungen zählen das Jenseits, die Transzendenz, das Paradies, der Himmel und die Erlösung. Hier trifft sich Friedrich Nietzche mit Karl Marx, der in seiner berühmten und berüchtigten Abhandlung aus dem Jahre 1843 die Religion als das „Opium des Volkes“ bezeichnet hatte. Bei Marx erscheint die Religion als eine Droge, die der Mensch selbst produziert, um seinem sozialen Elend etwas Betäubendes entgegenzusetzen. Bei Nietzsche wird das Gift den Menschen von jenen Priestern verabreicht, die es selbst durchaus besser wissen.

Karl Marx erblickt in der Religion den Keim eines Protestes gegen das Elend der Welt. Dieser Protest soll sich anschließend in der Revolution entfalten. Nach Friedrich Nietzsche lähmt dieses Gift der Religion den Menschen und macht ihn unfähig zur Selbstgewinnung. Um diesem Gift zu widerstehen, beschwor Zarathustra die Stärke des Starken, die Kraft desjenigen, der an sich glaubt. Nicht jedoch den kollektiven Aufstand gegen ein System, das für das Elend dieser Welt verantwortlich gemacht werden kann. Quelle: „Alle Lust will Ewigkeit“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies