José Ortega Y Gasset erklärt den Rationalismus

Der Relativismus ist für José Ortega Y Gasset ein zweifellos anerkennenswerter Versuch, die wundervolle Schrankenlosigkeit alles Lebendigen zu respektieren. Aber er ist ein Unterfangen, das gescheitert ist. Jeder talentierte Anfänger – sagte Johann Friedrich Herbart – ist ein Skeptiker, aber jeder Skeptiker ist nur ein Novize. Seit der Renaissance ist allerdings in der europäischen Seele eine gegenteilige Tendenz verwurzelt: der Rationalismus. Der Rationalismus verzichtet auf das Leben, um die Wahrheit zu retten. Da die Wahrheit absolut und unveränderlich ist, kann sie nicht einzelnen Menschen zukommen, da diese wankelmütig und bestechlich sind.

Der Irrtum ist für René Descartes eine Sünde des Willens

Man muss laut José Ortega Y Gasset jenseits der menschlichen Verschiedenheit ein abstraktes Bewusstsein annehmen, das allen Menschen gemeinsam ist. René Descartes nannte dieses Phänomen unseren gemeinsamen Grund, der von Veränderungen und individuellen Besonderheiten frei ist, die Ratio. Immanuel Kant betrachtete es als den intelligenten Charakter. Der Mensch wird quasi gespalten: auf der einen Seite steht er als wirkliches, lebendiges Wesen, seine atmende und historisch wandelbare Realität. Auf der anderen Seite sein Vernunftkern, der ihn befähigt, die Wahrheit zu erkennen, der dafür aber nicht lebt.

Vom Standpunkt des Rationalismus aus gesehen, fehlt der Geschichte mit ihren endlosen Umwälzungen jeder Sinn. Sie ist eigentlich eine Chronik der Hindernisse, die dem Durchbruch der Vernunft in den Weg gelegt wurden. Der Rationalismus ist also antihistorisch. José Ortega Y Gasset schreibt: „Im System Descartes´, des Vaters des modernen Rationalismus, hat die Geschichte keine Platz, besser gesagt: sie sitzt auf der Schandbank.“ Der Irrtum ist für René Descartes eine Sünde des Willens und kein Zufall oder gar das vorbestimmte Schicksal der Kraft der Intelligenz.

Die reine Vernunft bewegt sich im Absoluten

Auch für José Ortega Y Gasset ist die Geschichte im strengsten Sinne des Wortes eine Geschichte der Irrtümer. Wie René Descartes vertritt er die Ansicht, dass jeder Begriff und jede Theorie, sofern sie nicht von der reinen Vernunft konstruiert ist, hinfällig und verächtlich ist. José Ortega Y Gasset schreibt: „Die reine Vernunft oder die Ratio ist nichts anderes als unser Denken, wenn es im Vakuum arbeitet, wo es, von nichts behindert, nur sich selbst zugewandt und von seinen eigenen inneren Normen gelenkt ist.“

Er erläutert dies an folgendem Beispiel: für die Wahrnehmung und die Vorstellung ist ein Punkt die kleinste räumliche Ausdehnung, die der Mensch noch auffassen kann. Für den reinen Verstand hingegen ist ein Punkt das absolut Kleinste, das Unendlichkleine. Der reine Verstand kann sich also nur unter Superlativen und dem Absoluten bewegen. Denkt sie den Punkt, macht sie bei keiner Ausdehnung halt, bis sie nicht zum Extrem vorgestoßen ist.

Von Hans Klumbies