Georg Simmel analysiert das Großstadtleben

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysierte der Soziologe und Philosoph Georg Simmel das Großstadtleben und erkannte darin die spezifischen Anzeichen der Moderne. Isabella Guanzini erläutert: „In seinem kleinen Text „Die Großstädte und das Geistesleben“ von 1903 analysiert Georg Simmel die radikalen Veränderungen von Empfindung und Wahrnehmung der Individuen, die in der Großstadt leben, um zu verstehen, was die Seele der Stadt auf individueller und überindividueller Ebene ausmacht.“ Die charakteristische psychische Veränderung des modernen Individuums sieht Georg Simmel in der „Steigerung des Nervenlebens“, die aus raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Das Großstadtleben ist eine Zusammenballung emotionaler Reize, die Aufmerksamkeit fordern und ständig auf die subjektive Seele einstürmen, die sie verarbeiten und auf sie reagieren muss. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

Das Großstadtleben fördert die Kraft des eigenen Verstandes

Die Intensität an Sinnesreizen ist der größte Unterschied zwischen dem Leben in der Stadt und jenem auf dem Land mit seinem gleichmäßigeren Rhythmus, der die emotionale und geistige Form dortiger Horizonte der Erfahrung widerspiegelt. Für das Seelenleben der Kleinstadt sind „Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen“ wesentlich, die im kollektiven Unbewussten traditioneller Praktiken, ungeschriebener Gesetze und fester Gewohnheiten bewahrt werden.

Im Gegensatz dazu fördert das Großstadtleben die Kraft des eigenen Verstandes, da dieser anpassungsfähiger ist und auf unvorhergesehene Situationen flexibler reagieren kann. Isabella Guanzini stellt fest: „Der Typus des Großstädters reagiert auf die gefühlsmäßige Überreizung also mit einem intellektualisierenden und distanzierten psychischen Verhalten, mit Hilfe dessen er eine Distanz zwischen sich und die Welt schiebt und alles filtert und neutralisiert, was emotional nicht verarbeitet werden kann. Die Großstadt ist ein Kaleidoskop aus Bildern, Gerüchen, Geräuschen und Farben, die einen unaufhaltsamen Strom von Reizen bilden, vor dem sich die Subjekte in gewisser Weise schützen müssen.

In der Großstadt herrscht eine allgemeine Nervosität

In der Großstadt entsteht eine ständige „Gemeinschaft der Erregung“, ein kohärentes System der Erzeugung allgemeiner Nervosität, das sich Tag für Tag erneuert und die neue postmoderne Form eines unruhigen sozialen Zusammenhalts bildet. Gegen die despotische Herrschaft dieser großstädtischen psychischen Ordnung entwickeln die Individuen ein ausgefeiltes System der Immunisierung, dessen Zentrum der Verarbeitung der Verstand ist. Die urbanen Subjekte haben eine subversive Tendenz zur Umgehung und zunehmenden Distanzierung von Reizen.

Dadurch verwandeln sie die sie umgebende Realität in etwas „Objektives“ und damit Kontrollierbares, Messbares, Berechenbares. Der Verstand ist ein Werkzeug zur Verteidigung „gegen die Vergewaltigungen der Großstadt“ und ihre Reizüberflutung. Das Gefühlsleben wird gefiltert und einem Prozess der Erkaltung und Distanzierung unterworfen, was den Charakter des blasierten Menschen hervorbringt, einer typischen Figur des urbanen Phänomens. Quelle: „Zärtlichkeit“ von Isabella Guanzini

Von Hans Klumbies