Während die Industriegesellschaft materiell auf dem fossilen Brennstoff beruhte, wurde sie moralisch von den christlich-antiken Tugenden befeuert, die eine disziplinierte Arbeitsgesellschaft hervorbrachte. Zwei Ressourcen – das Öl und die Tugenden –, die sich nun scheinbar erschöpfen. Reimer Gronemeyer ergänzt: „Vor uns die vielen Krisen, vom globalen Klimawandel bis zur weltweit anschwellenden Migration. Vor uns dramatische Umbrüche: Künstliche Intelligenz und Automatisierung, Algorithmierung des Alltags und Menschenverbesserung.“ Auf dem Programm steht die Optimierung des Homo sapiens zum Einzelkämpfer mit perfektionierter DNA. Eingehüllt in eine digitale Schutzweste, wird wohl nur noch seine Seele durch Softwareprogramme abgelöst werden müssen. Was da jetzt designt wird, ist eine neue Kreatur, welche die Koalition zwischen Industriegesellschaft und alten Tugenden überwunden haben wird. Reimer Gronemeyer ist seit 1975 Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er 2018 zum Ehrensenator ernannt wurde.
Der Homo sapiens geht scheinbar seiner Optimierung entgegen
Reimer Gronemeyer gibt zu, dass diese Koalition nicht immer gut funktioniert hat, denn oft genug blieben die Tugenden nur ein Feigenblatt. Aber der Homo sapiens steht ohne seine alte Moral gewissermaßen nackt da. Die Herausforderungen, so muss er sich eingestehen, die durch Klimawandel, Artensterben, Überbevölkerung und Migration auf ihn zukommen, lassen sich tugendhaft wohl kaum bewältigen: Dazu wird ein Systemmanagement gebraucht, das rechnet und nicht wertet, das optimiert und nicht zweifelt.
Der Homo sapiens geht scheinbar unweigerlich seiner Optimierung entgegen. Soll man ihn Cyborg nenne? Reimer Gronemeyer erläutert: „Wenn wir – was jetzt in den Bereich des Möglichen rückt – unsere DNA, unser Hormonsystem und unsere Gehirnstruktur nur ein wenig verändern, dann entsteht ein neues Wesen.“ Und die Bioingenieure, die sich den alten Körper vornehmen, seinen Gencode umschreiben, seine Gehirnströme neu ausrichten und sein biochemisches Gleichgewicht verändern, werden dadurch – so schreibt Yuval Noah Harari – neue kleine Götter, die den Homo sapiens zur überholten Figur machen.
Tugend wird durch Leistung ersetzt
Der Übergang vom Homo erectus zum Homo sapiens war ein tiefer Bruch. Dasselbe wird für den Schritt vom Homo sapiens zum Cyborg bedeuten. Es versteht sich fast von selbst, dass dieser Homo cyborgensis sich weder auf die altmodischen und erschöpften fossilen Ressourcen beziehen noch aus seinen moralischen Quellen schöpfen wird. Er wird sich nicht einmal an sie erinnern. Angesichts dieser Entwicklungen kann das Thema „Tugend“ eigentlich nur wie ein Überbleibsel aus der Mottenkiste wirken.
Der große österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Die Bedeutung eines Begriffs ergibt sich aus seinem Gebrauch.“ Ist folglich schon die Rede von der Tugend lächerlich? Und ist der Begriff, der an deren Stelle den herrschenden Realitäten Raum verschafft, nicht eigentlich der Begriff „Leistung“? Man kann also die Tugend streichen und zeitgemäß von Leistung sprechen. Dann gilt das Motto: „Hole alles aus Dir heraus! Entfessle deine Ressourcen! Optimiere dich!“ Quelle: „Tugend“ von Reimer Gronemeyer
Von Hans Klumbies