Für den Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann ist die Reduktion von Komplexität und Ungewissheit ein grundlegender Bestandteil sozialer Prozesse. Eva Illouz erläutert: „Liebe ist – wie Wahrheit, Geld oder Macht – ein Kommunikationsmedium, das dabei hilft, Erwartungen zu erzeugen, eine Entscheidung unter vielen möglichen anderen auszuwählen, Motivationen mit Handlungen zu verbinden sowie Gleichheit und Vorhersehbarkeit in Beziehungen zu schaffen.“ Ein solches Medium der Kommunikation bringt Rollen hervor, die wiederum erwartete Ergebnisse produzieren. Vorhersehbarkeit ist eine fundamentale Dimension sozialer Interaktionen, die beispielsweise in Riten besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Wenn Interaktionen ritualisiert werden, erzeugen sie Gewissheit über die Beziehungsdefinition der Akteure, über ihre Position in einer solchen Beziehung und über die dazugehörigen Verhaltensregeln. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.
Normative Klarheit schafft Gewissheit
Gewissheit verweist auf die Fähigkeit einer Person, Verhalten in sozialen Situationen zu beschreiben, vorherzusagen und zu erklären. Umgekehrt erzeugen laut der Definition der „Blackwell Encyclopedia of Sociology“ „unklare, missverständliche oder widersprüchliche Deutungen Gefühle der Ungewissheit“. Was für Rituale gilt, trifft auch auf normative Klarheit zu – zu wissen, worin Norm, Regel und Rolle bestehen: Auch sie verschafft Gewissheit über die Definitionen von Situationen und der eigenen Person in einer gegebenen Situation.
Zudem ist Gewissheit eine psychische Eigenschaft von Personen, aber auch eine Eigenschaft von Interaktionen und hat als solche verschiedene Dimensionen. Normative Gewissheit lebt beispielsweise von der wahrgenommenen Klarheit von Normen und Werten, die in einer Interaktion eine Rolle spielen. Je leichter die für eine Interaktion relevanten Normen bestimmt werden können, desto stärker sind die Normen und desto absehbarer ist die Interaktion. Der Schutz der weiblichen Jungfräulichkeit zum Beispiel blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine der grundlegenden Normen des traditionellen Liebeswerbens.
Vorehelicher Geschlechtsverkehr war im England des 17. Jahrhunderts erlaubt
Frauen mussten damals ihre sexuelle Reinheit bewahren, und Männer wurden für Abweichungen von den sexuellen Verhaltensregeln verantwortlich gemacht. Frauen niederer Herkunft wurden oft Opfer straflosen sexuellen Missbrauchs durch Männer einer höheren sozialen Klasse. Weil aber die Normen des Sexualverhaltens einen Moralkodex bildeten, mussten die Männer sie zumindest dem Anschein nach respektieren, so dass sexuelle Aktivitäten überwiegend im Verborgenen beziehungsweise im Vorgriff auf eine Ehe oder unter deren Anschein stattfanden.
Im frühneuzeitlichen England des 17. Jahrhunderts etwa stellte der weitverbreitete voreheliche Geschlechtsverkehr keine mutwillige Verweigerung moralischen Anstands durch einfache Menschen dar. Er verdankte sich vielmehr der allgemeinen Überzeugung, dass die Grenze zwischen verbotenem und erlaubtem Sex überschritten war, sobald sich ein Paar füreinander entschieden hatte. Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie eng damals das Bewusstsein der maßgeblichen Verhaltensnormen mit dem Liebeswerben verknüpft war. Quelle: „Warum Liebe endet“ von Eva Illouz
Von Hans Klumbies