Die Geburt ist kein absoluter Anfang

Die Geburt ist die absolute Grenze der Wiedererkennbarkeit. Sie ist die Schwelle, auf der das „Ich“ mit einem anderen verschwimmt. Emanuele Coccia erklärt: „Unmöglich zu sagen, ob der Atem, der uns erlaubt, diese Silbe auszusprechen, wirklich uns gehört. Oder ob er die Fortsetzung des Körpers unserer Mutter ist. Unmöglich zu sagen, ob diese Silbe unseren Körper bezeichnet oder den, aus dem wir gekommen sind.“ Die Geburt ist die Kraft, durch welche die Menschen „ich“ nur sagen können, wenn sie alle Erinnerung verleugnen. Sie müssen vergessen, woher sie kommen. Sie müssen den anderen Körper vergessen, der sie solange beherbergt hat, müssen sich von ihm ent-identifizieren. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Jeder trägt Vater und Mutter in sich

Emanuelle Coccia hat, wie alle Menschen, vergessen. Er hat sich selbst vergessen, aber er hat auch und vor allem alles vergessen. Er hat zum Beispiel vergessen, dass er neune Monate lang der Körper seiner Mutter war. Emanuelle Coccia war nicht bloß in ihr drin: Er war im wahrsten Sinne ihr Körper. Emanuelle Coccia war ein Teil ihres Bauches, materiell nicht von ihm zu trennen. Fleisch ihres Fleisches, Leben ihres Lebens. Dieses Vergessen kommt nicht von ungefähr, vielmehr ist es die Bedingung der Möglichkeit, um damit anzufangen, sich selbst anders zu sehen.

Es ist das kognitive Gegenstück zu dem Akt, ein anderer zu werden als die eigene Mutter. Nämlich ihr Leben und ihren Atem anderswo als in ihrem Bauch und Bewusstsein fortzusetzen. Emanuele Coccia hat, wie alle Menschen, vergessen, dass er der Körper seines Vaters war. Er war es und ist es immer noch, nicht nur in materieller Hinsicht. Qua Geburt trägt er die Gestalt seines Vaters und seiner Mutter in sich. Genetisch gesehen ist er der unwahrscheinliche und lautstarke Dialog zwischen ihren Körpern und Gestalten.

Es gab schon etwas vor dem eigenen Selbst

Dieses mit der Geburt einhergehende Vergessen ist der Grundstein der Erinnerung. Im Übrigen sind auch seine Eltern eine Frucht dieses Vergessens und dieser Mischung. Die Körper seines Vaters und seiner Mutter, ihre Gestalten, in sich zu haben, bedeutet also, die Körper und das Leben einer unzähligen Reihe von Lebewesen in sich zu haben. Die Geburt ist nicht nur das Auftauchen von etwas Neuem, sie ist auch das Abtauchen der Zukunft in eine grenzenlose Vergangenheit.

Geborenwerden bedeutet zu vergessen, was man vorher war. Zu vergessen, dass der andere in einem weiterlebt. Die Geburt ist kein absoluter Anfang. Es gab schon etwas vor dem eigenen Selbst. Man war schon etwas, bevor man geboren wurde. Die Geburt ist allein dies: die Unmöglichkeit außerhalb eines Kontinuitätsverhältnisses zwischen dem eigenen Ich und dem Ich der anderen zu stehen. Emanuele Coccia wurde geboren. Er transportiert immer etwas anderes als sich selbst. Sein Ich ist nichts anderes als ein Vehikel mit fremder Materie. Quelle: „Metamorphosen“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies