Konservativismus ist ein schillernder Begriff

Niemand kann genau sagen, was es heutzutage bedeutet, konservativ zu sein. „Konservativismus“ ist inzwischen vermutlich einer der am häufigsten umgedeuteten Begriffe der Politik. Bei vielen aktuellen Definitionen jedenfalls würde sich kein Konservativer des 20. Jahrhunderts wiedererkennen. Oder sie sind so allgemein gehalten, dass sie auf fast alle politischen Strömungen zutreffen. Philipp Hübl stellt fest: „Das hat vor allem mit dem progressiven Wandel der letzten dreißig Jahre zu tun. CDU-Wähler beispielsweise sind bei der Selbstbezeichnung „konservativ“ geblieben, obwohl sie ihre Einstellungen modernisiert haben und daher das Prädikat „bürgerlich“ viel eher auf sie zutrifft.“ Der CDU-Politiker Jens Spahn zählt zu den konservativen Eigenschaften Werte wie Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Leistungsbereitschaft, Familie, Zusammenhalt und Identität. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

Weltweit verteidigen Konservative die Autorität

Mit Blick auf die Schablone der sechs Prinzipien handelt es sich bei diesen Merkmalen allenfalls um eine Sparversion des Konservativen. Jens Spahn stellt stillschweigend das Persönlichkeitsmerkmal Gewissenhaftigkeit in den Vordergrund. Dazu zählen auch Untermerkmale wie Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Leistungsbereitschaft. Doch eine klare Abgrenzung ist das nicht, denn Progressive sind ebenfalls zuverlässig und ehrgeizig. Außerdem appellieren Jens Spahns Begriffe Familie und Zusammenhalt in so schwacher Form an das Prinzip Loyalität, dass sie fast jeder hochhalten würde.

Zentrale Begriffe wie „Heimat“, „Tradition“ und „Religion“ erwähnt er hingegen nicht und verzichtet damit auf die Prinzipien Autorität, Loyalität und Reinheit. Weltweit sind Konservative tribalistisch, weil sie Autorität und Loyalität hochhalten, also gerade die beiden zentralen Prinzipien, die den Zusammenhalt in der Herde sichern. Zudem können Konservative nicht gut mit Mehrdeutigkeit und Vielfalt umgehen, sondern sehnen sich nach Klarheit und Eindeutigkeit.

„Konservativ“ ist ein relationaler Begriff

Ein anderer Vorschlag charakterisiert „konservativ“ über das Merkmal „Altes bewahren“. Doch das ist ebenfalls wenig hilfreich, denn was alt oder traditionell in einem Land gilt, schwankt bekanntlich stark. So würde das Paradox entstehen, dass zwei Menschen konservativ sind, obwohl sie gegenseitige Auffassungen vertreten. Wie der Ausdruck „progressiv“ ist auch „konservativ“ ein relationaler Begriff. Man kann ihn also immer nur mit Bezug auf die Gegenposition verstehen.

Gleichzeitig ist es sinnvoll, ihn nicht rein relational zu verstehen, sondern ihn an unabhängig kennzeichnenden Merkmalen festzumachen. Vielleicht kann man „das Alte“ oder „die Tradition“ ja inhaltlich näher bestimmen? Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in einem Spiegel-Interview seinen Konservativismus „prozessual“ definiert und an „zivilisatorischen Errungenschaften“ wie dem Rechtsstaat und dem Sozialstaat festgemacht. Doch auch das trivialisiert den Begriff, denn es macht aus jedem Europäer einen Konservativen. Wer will schon den Rechtsstaat aufgeben? Quelle: „Die aufgeregte Gesellschaft“ von Philipp Hübl

Von Hans Klumbies