Im Spiegel vervielfältigt sich die eigene Gestalt

Das Reich der Bilder, die Sinnenwelt, ist ein an den Rändern einer spezifischen Kraft – des rezeptiven Vermögens – errichtetes Reich. Emanuele Coccia erläutert: „Indem das Medium die materielose Form in sich empfängt, trennt es sie von ihrem gewohnten Substrat und ihrer Natur.“ In den Begriffen der Scholastik ist das Medium der Ort der Abstraktion, also der Abtrennung. Das Sinnliche ist die von ihrer natürlichen Existenz abgetrennte, abstrahierte Form. So existiert das eigene Abbild im Spiegel oder einer Fotografie wie losgelöst von der eigenen Person, in einer anderen Materie, an einem anderen Ort. Die Trennung ist die wesentliche Funktion des Ortes. Einer Form einen Ort zuzuweisen, bedeutet, sie von den anderen zu trennen. Sie von der Kontinuität und der Vermischung mit dem übrigen Körper abzulenken. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Spiegel sind die Agenten der Vervielfältigungen

Diese mediale Trennung der Bilder findet im Bereich des Sinnlichen statt. Sie wird durch die besondere Eigenschaft der Form ermöglicht, sich zu vervielfältigen. Die Erfahrung der Verdoppelung des eigenen Bildes im Spiegel ist oft als tragische Erfahrung der Dissoziation zwischen dem Selbst als Subjekt und dem Selbst als Bild beschrieben worden. Oder aber auch als unüberbrückbare Spaltung zwischen Selbst und Ich-Ideal. Doch diese kleingeistigen Befürchtungen gehen für Emanuele Coccia am Wesentlichen vorbei.

Die Erfahrung nämlich, die man immer wieder aufs Neue macht, wenn man sich im Spiegel betrachtet. Oder wenn man sich von außen wahrnimmt und sich als jemand anderes vorstellt. Dies hat etwas Komisches an sich. Der Spiegel, die Vorstellung, die Wasseroberfläche, in denen man sich reflektiert, hat einem die eigene Gestalt nicht geraubt. Sie haben sich lediglich vervielfältigt. Emanuele Coccia erklärt: „Bilder sind die Agenten der Vervielfältigungen der Formen und Wahrheiten.“

Vor dem Spiegel existiert ein Mensch vier Mal

Emanuele Coccia fährt fort: „Während ich mich im Spiegel anschaue, betrachte ich mich nämlich gleichzeitig hier und dort. Diesseits als Körper und Seele und auf dem Spiegel, als Sinnenbild.“ Die Bildwerdung ist ein Verschiebungs- und Verlagerungsvorgang, gewiss, doch sie ist vor allem eine Selbstvervielfältigung. Im Spiegel erscheint und existiert man für einen kurzen Moment auch dort, wo man nicht mehr lebt und nicht mehr denkt. Sie spiegeln, bedeutet den Taumel zu spüren, an mehreren Orten gleichzeitig und in je unterschiedlicher Weise zu existieren.

Jeden Morgen, wenn der eigene Körper vor den Spiegel tritt, existiert die eigene Gestalt auf vier unterschiedlichen Weisen. Als sich im Spiegel reflektierender Körper, als sich selbst denkendes und erfahrendes Subjekt, als im Spiegel existierende Gestalt. Und schließlich als Begriff oder Bild in der Seele des denkenden Subjekts, der beziehungsweise das es diesem ermöglicht, sich selbst zu denken. Das Sinnliche ist die Vervielfältigung des Seins. Darüber, ob es nur ein Reich des Sinnlichen oder endlos viele davon gibt, darüber lässt sich streiten. Quelle: „Sinnenleben“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies