Integration braucht den Willen zur Zuwendung

Neben „Bildung“ geht vielen Zeitgenossen nur noch ein Begriff aus dem Arsenal spätmoderner Problemlösungsrhetorik schneller über die Lippen: Integration. Als wäre mit dem Aussprechen des Worts bereits das Programm benannt. Als wäre Integration eine Währung, die sich einfach so konvertieren ließe. Ohne auch nur zu fragen, ob damit womöglich nicht ein viel zu hoher Anspruch formuliert ist, ob es sich nicht um Inflationsgefahr handeln könnte und man sich besser über Inklusion, Annäherung oder temporäre Hospitalität unterhalten sollte. Christan Schüle ergänzt: „Oft werden besagte Leitbegriffe gekoppelt in der Annahme, durch mehr Bildung erreiche man bessere Integration.“ Integration setzt Integrität voraus: den Willen zur Zuwendung, sonst wäre sie ein reich sozialtechnisches Verfahren über die Köpfe der Menschen hinweg. Diese nehmen eine derartige Fremdbestimmung, so ist zu vermuten, auf Dauer nicht hin. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Jede Integration setzt Gegenseitigkeit voraus

Hinsichtlich der Integration geht es nicht nur um Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sondern um kulturelle Kompatibilität von Norm- und Wertvorstellungen. Das erfordert weit mehr als formale Registrierung, Unterbringung und Versorgung von Fremden, und das ist weit mehr als nur die Organisation einer infrastrukturell vollzogenen Eingliederung. Integration ist ein umfassender Prozess der Beheimatung, der Zeit, Geduld, Geld und eine doppelte Bereitschaft benötigt.

Die Bereitschaft jener, die integriert werden sollen, sich auf eine neue kollektive Wert-, Normen- und Rechtsgemeinschaft einpassen zu wollen; und derer, die integrieren sollen, ihren kulturellen Identitätsraum für Fremde zu öffnen. Christan Schüler erläutert: „Jede Integration ist eine Prozedur, die Reziprozität, Gegenseitigkeit, voraussetzt – in der reflexiven wie nicht reflexiven Form. Ein Fremder muss sich integrieren, und die Einheimischen müssen ihn integrieren.“

Eine Wertegemeinschaft ist keine Gesinnungsgemeinschaft

Der Gebiets- oder Kulturfremde muss sich in die ihm neue Wertegemeinschaft eingliedern wollen, wie auch die Gemeinschaft der einheimischen Werte-Träger den Gebiets- und Kulturfremden in ihren von Völker-, Europa- und Verfassungsrecht eigewobenen Raum muss eingliedern wollen. Wohlgemerkt: Eine Wertegemeinschaft ist keine Gesinnungsgemeinschaft. Sie basiert auf Vorstellungen praktischer Ethik und gelebter Sittlichkeit, die über einen langen Zeitraum hinweg bestätigt, beglaubigt, befolgt und für gut befunden wurden.

Christian Schüle weiß: „Herrschen auf der einen Seite Integrationsfurcht und auf der anderen Integrationsunkenntnis, steht das Eingliederungsunterfangen auf wackligen Beinen.“ Flüchtlinge, die einwandern, legen ihre Normen, Sitten und Traditionen ja nicht an der Grenze ab. Sondern sie tragen gute wie nachteilige Eigenschaften in den neuen, präfigurierten Raum mit hinein. Dadurch könnte im positiven ein dialektischer Kulturalisationsprozess, im negativen eine antagonistische Reibung entstehen könnte. Integration ist also ein problematischer Begriff, weil er Anpassungsleistungen erfordert. Deren Güteklasse unterliegt unterschiedlichen Weltanschauungen und ideologischen Interpretationen. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies