Seinem Schatten kann niemand entfliehen

Sein Schatten fordert Zarathustra auf, auf ihn zu warten. Er versucht ihm allerdings davonzulaufen und begründet dies damit, dass „ihn ob des vielen Zudrangs und Gedränges in den Bergen“ „ein plötzlicher Verdruss überkam“. Er besiegelt das Ganze mit dem Ausruf: „Mein Reich ist nicht mehr von dieser Welt, ich brauche neue Berge.“ Christan Niemeyer erläutert: „Dieses Aufbruchsmotiv spielt allerdings in der Folge keine Rolle mehr. Eigentlich nachvollziehbar, denn seinem Schatten kann man nicht entweichen, wie auch Zarathustra bald feststellen muss.“ Plötzlich anhaltend, wird der fast umgeworfen von seinen „Nachfolger und Schatten. Dieser macht im Übrigen keinen guten Eindruck: „so dünn, schwärzlich, und überlebt“, wie er aussah, „wie ein Gespenst“. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

Der Schatten ist ein Wanderer ohne Ziel und Heim

Dies macht die Frage drängend, um wen es sich da eigentlich handelt. Des Schattens Antwort auf diese auch von Zarathustra gestellte Frage hat es in sich. Ein Wanderer sei er, der viel schon hinter deinen Fersen herging. Immer unterwegs sei er gewesen, aber ohne Ziel, auch ohne Heim. Der Wanderer, als welcher sich der Schatten bezeichnet, will von Zarathustra offenbar vor allem als Bedenkenträger wahrgenommen werden. Er habe immer nur wie Zarathustra gegeben und sei deshalb dünn geworden.

Er sei einem Gespenste gleich, das in fernen, kältesten Welten Umgang pflegte. Vor allem aber gelte: „Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte.“ In der Umkehrung gesprochen: „Nicht lebt mehr, das ich liebe, – wie sollte ich noch mich selber lieben?“ Das ist ein erschütternder Satz. Fast ist man versucht zu sagen: Es handelt sich um eine Formulierung, in der sich die Not des unter der Brisanz seines gottlosen Denkens schwer tragenden Friedrich Nietzsches Bahn bricht.

Zarathustra lehrt den Übermenschen

Der Schatten klagt des Weiteren: „Wo ist – mein Heim? Danach frage und suche und suchte ich, das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendwo, oh ewiges – Umsonst!“ Angespielt wird hier auf eine ähnliche Klage aus dem Zarathustra. Nämlich auf den Satz: „Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte: so klingt unsere Klage – hinweg über flache Sümpfe.“ Dies erinnert auch an die Charakterisierung des Übermenschen als „Meer“ im Gegensatz zum Menschen als „schmutzigen Strom“.

Zarathustra sagt: „Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dies Meer, in ihm kann eure große Verachtung untergehen.“ Das lässt Christian Niemeyer auch an ein Nachlassnotat von 1882 Friedrich Nietzsches denken. Dieses lautet wie folgt: „Wo ist ein Meer, in dem wirklich noch ertrinken kann? Nämlich ein Mensch! – dieser Schrei klingt durch unsere Zeit.“ Die Verzweiflung, die der Wahrsager und der Schatten im „Zarathustra“ zum Ausdruck bringen, ist auch diejenige Friedrich Nietzsches. Daran besteht für Christian Niemeyer kein Zweifel. Quelle: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“

Von Hans Klumbies