Die Zeit vergeht nicht überall gleich schnell

Im Gebirge vergeht die Zeit schneller als im Flachland. Das mag für viele Menschen überraschend klingen, aber so ist die Welt beschaffen. Carlo Rovelli weiß: „Die Zeit vergeht mancherorts langsamer, andernorts schneller.“ Wahrhaft überraschend ist, dass jemand diese Verzögerung des Zeitablaufs schon ein Jahrhundert früher erkannt hat, als es Uhren gab, die sie messen konnten: Albert Einstein. Die Fähigkeit, Dinge zu verstehen, ehe man sie beobachten kann, bildet den Kern des wissenschaftlichen Denkens. In der Antike erkannte Anaximander (um 610 – 547 v. Chr.), dass die Erde eine Kugel ist, noch ehe Schiffe Weltumseglungen unternahmen. Zu Beginn der Neuzeit entdeckte Kopernikus (1473 – 1543), dass sich die Erde dreht, noch ehe Astronauten vom Mond aus ihre Rotation beobachten konnten. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

Sonne und Erde wirken unterschiedlich stark auf Raum und Zeit ein

In Schritten voraus wie diesen stellt sich scheinbar Selbstverständliches als reines Vorurteil heraus. Albert Einstein stellte sich die Frage, die sich wohl schon viele Menschen stellten, als sie sich mit der Schwerkraft auseinandersetzten: Wie gelingt es Sonne und Erde, sich wechselseitig anzuziehen, ohne sich zu berühren oder ein Medium für ihre Anziehung zu nutzen? Auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung kam Albert Einstein auf den Gedanken, dass sich Sonne und Erde nicht direkt wechselseitig anziehen, sondern unterschiedlich stark auf das einwirken, was einzig zwischen ihnen liegt: auf Raum und Zeit.

Carlo Rovelli erläutert: „Sonne und Erde mussten um sich herum Raum und Zeit in gleicher Weise verändern, wie ein eintauchender Körper das Wasser um sich verdrängt. Und diese Veränderung der Struktur der Zeit wirkt ihrerseits auf die Bewegung sämtlicher Körper ein. Sie sorgt dafür, dass sie aufeinander zufallen.“ Was heißt „Veränderung der Struktur der Zeit? Es bedeutet, dass die Zeit verlangsamt abläuft: Jeder Körper verlangsamt das Vergehen der Zeit in seiner näheren Umgebung.

Wegen der Verlangsamung der Zeit fallen die Dinge nach unten

Die Erde ist eine große Masse und bremst den Zeitablauf in ihrer Nähe: stärker im Tiefland und weniger stark im Gebirge, weil die Dinge oben vom Schwerpunkt der Erde weiter entfernt sind. Deswegen altert ein Mensch im Flachland langsamer. Wenn Dinge fallen, so wegen der Verlangsamung der Zeit. Wo die Zeit gleichförmig vergeht, im interplanetaren Raum, bleiben die Objekte, ohne zu fallen, ihn der Schwebe. Auf der Oberfläche der Erde streben Dinge natürlicherweise dorthin, wo die Zeit langsamer vergeht.

Die Dinge fallen nach unten, weil der Zeitablauf in tieferen Lagen von der Erde stärker gebremst wird. Obwohl sie eher schwer zu beobachten ist, hat die Verlangsamung der Zeit beachtliche Auswirkungen: Sie lässt Dinge herabfallen und hält die Menschen mit den Füßen auf der Erde. Wer die sinkende Abendsonne beobachtet, sollte sich bewusst machen, dass nicht die Sonne, sondern die Erde sich dreht. Von der Sonne aus gesehen, dreht sich die Erde nach hinten weg. Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies