Carlo Rovelli kennt das Geheimnis der Zeit

Das Geheimnis der Zeit beunruhigte die Menschen seit jeher und weckt tief verwurzelte Gefühle. Parmenides wollte der Zeit die Realität absprechen, Platon ersann ein Reich der Ideen außerhalb der Zeit. Und Georg Wilhelm Friedrich Hegel spricht von dem Augenblick, in dem der Geist die Zeitlichkeit überwindet. Carlo Rovelli ist überzeugt, dass diese Denker die Verunsicherung zu überwinden trachteten, welche die Zeit in den Menschen auslöst: „Um dieses beunruhigende Gefühl abzuschütteln, haben wir die Existenz der Ewigkeit ersonnen.“ Dabei handelt es sich um eine seltsame Welt außerhalb der Zeit, nach den Wünschen der Menschen bevölkert mit Göttern, einem einzigen Gott oder unsterblichen Seelen. Die Physik hilft den Menschen, Schicht um Schicht in das Geheimnis der Zeit vorzudringen. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Man muss sich vom Nebel der Emotionen befreien

Die Physik zeigt, inwieweit sich die Zeitstruktur der Welt von der intuitiven Vorstellung eines Menschen unterscheidet. Carlo Rovelli stellt fest: „Sie gibt uns Hoffnung, ins Wesen der Zeit vorzustoßen, wenn wir uns vom Nebel unserer Emotionen befreien.“ Aber vielleicht sind am Ende die Gefühle, die das Phänomen Zeit in den Menschen auslöst, möglicherweise doch nicht die Nebelwand, welche die Menschen daran hindert, das objektive Wesen der Zeit zu erkennen.

Vielleicht ist die emotionale Haltung gegenüber der Zeit genau das, was für die Menschen die Zeit ausmacht. Carlo Rovelli glaubt nicht, dass es sehr viel mehr zu verstehen gibt: „Wir können uns weitere Fragen stellen, müssen aber darauf achten, dass sie sich gut formulieren lassen. Wenn wir auf alle sagbaren Eigenschaften der Zeit gestoßen sind, haben wir die Zeit gefunden.“ Wenn man ein Problem nicht präzise formulieren kann, dann oft nicht deshalb, weil es tiefgründig, sondern weil es ein Scheinproblem ist.

Man kann die Welt ohne Zeit sehen

Wird die Menschheit zu einem besseren Verständnis gelangen. Carlo Rovelli glaubt schon: „Unser Verständnis von der Natur hat sich im Verlauf der Jahrhunderte in schwindelerregendem Tempo erweitert. Und wir lernen immer weiter. Aber etwas erahnen wir am Mysterium der Zeit.“ Man kann die Welt ohne Zeit sehen. Sich vor seinem geistigen Auge die Tiefenstruktur vorstellen, in der die den Menschen bekannte Zeit nicht mehr existiert.

Und allmählich begreifen die Menschen, dass sie die Zeit sind. Sie sind dieser Raum, diese offene Lichtung der Spuren der Erinnerung in den Verschaltungen des menschlichen Nervensystems. Carlo Rovelli vermutet: „Wir sind Erinnerung, Sehnsucht, Erwartung einer Zukunft, die nicht kommt.“ Dieser Raum ist jene Zeit, welche die Menschen bisweilen ängstigt, aber letztlich doch ein Geschenk ist. Ein kostbares Wunder, das den Menschen das unendliche Spiel der Kombinationen eröffnet hat. Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies