Atmosphärische Phänomene sind natürlich

Carlo Rovelli betont einen Aspekt im Denken von Anaximander (610 – 545 v. Chr.), der seines Erachtens von zentraler Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um die Deutung atmosphärischer Phänomene als natürlicher Ereignisse. Anaximander behauptet beispielsweise, der Regen entsteht aus dem Dampf, der von der Erde aufsteigt, wenn sie von der Sonne erhitzt wird. Für Anaximander gehen Phänomene wie Donner, Blitz, Orkane und Taifune auf den Wind zurück. Der Wind ist seiner Meinung nach ein Strom von Luft, entstanden bei der Bewegung oder Auflösung der feinsten und feuchtesten Teile in ihr durch die Einwirkung der Sonne. Die griechische Welt schenkte atmosphärischen Phänomenen große Aufmerksamkeit, was sich auch schon in ihren religiösen Riten zeigte. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

Die Götter sind nicht für die Atmosphäre verantwortlich

An einem bestimmten Punkt der Menschheitsgeschichte wurde die Idee geboren, dass es möglich war, atmosphärische Erscheinungen, ihre Beziehungen, ihre Ursachen und ihre Wechselwirkungen ohne Bezug auf die Launen der Götter zu erklären. Diese Wende vollzog sich im griechischen Denken des 6. Jahrhunderts, und führend war dabei nach Aussage fast aller antiken Autoren Anaximander von Milet. Dieser epochale intellektuelle Umbruch wird laut Carlo Rovelli unterschätzt.

Denn der naturalistische Ansatz zur Erklärung von Phänomenen blieb höchst umstritten. Die Antike konnte sich nicht entscheiden, ob Anaximanders naturalistische Sicht nun richtig war oder nicht. In seiner Komödie „Die Wolken“, die Aristophanes zwei Jahrhunderte nach Anaximander verfasste, wird die naturwissenschaftliche Erklärung, die Anaximander für Blitz und Donner gab, noch immer als Blasphemie gegenüber Zeus empfunden. Heutzutage halten des die Menschen für völlig offensichtlich, dass atmosphärische Phänomene natürliche Ursachen haben. Anaximanders naturalistische Weltsicht erstrecke sich allerdings auf weit mehr als meteorologische Phänomene.

Anaximander sieht den Ursprung des Lebens im Meer

In seiner Weltgeschichte gibt es kaum noch einen Hinweis auf Übernatürliches. Anaximander erklärt die Dinge der Welt durch die Tatsachen der Welt: Feuer, Hitze, Kälte, Luft, Erde. Anaximander analysiert die Dinge der Welt: die Sonne, der Mond, die Sterne, das Meer und die Erde. Die Autorität des göttlichen Zeus interessiert ihn nicht. Es gibt ein weiteres Gebiet, auf dem sich Anaximanders Naturalismus als so erfolgreich erwiesen hat. Dieses grenzt fast an ein Wunder. Nämlich seine Überlegungen zum Ursprung des Lebens und zum Ursprung des Menschen.

Anaximander sieht den Ursprung des Lebens im Meer. Er spricht ausdrücklich von einer Evolution der Lebewesen. Diese bringt er mit der Evolution klimatischer Bedingungen in Zusammenhang. Die ersten Arten sind Meeresbewohner, und dann, als die Erde trockener wurde, haben sie sich an das Leben auf dem Festland angepasst. Anaximanders Suche nach natürlichen Erklärungen für atmosphärische Phänomene ist von großer Bedeutung für die Geschichte der Naturwissenschaften. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies

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