Regelverstöße gehören zum Sozialleben dazu

Normen haben zwangsläufig etwas Starres, Unverbindliches, Fixiertes, etwas Stures. Sie sind damit stets auch etwas Überforderndes und Illusionäres. Richard David Precht erläutert: „Sozialverhalten und Moral aber leben von Grauzonen, von Verhalten, das man nicht so genau kennt. Es lässt sich nicht normieren wie die Größe von Nägeln oder Schrauben.“ Wo wirkliche Menschen leben, gehört der Regelverstoß zum Sozialleben dazu. Schon was überhaupt ein Regelverstoß ist, ist hochgradig kulturell bedingt. Wer in Beirut über eine rote Ampel fährt, wird von der Polizei dafür nicht belangt. In Bayreuth dagegen ist das Risiko höher. Der Grund dafür ist klar. Würde sich die Polizei in Beirut um Verstöße bei Fußgängern kümmern, käme sie zu nichts anderem mehr. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Sozialen Normen muss man nicht folgen

Wenn alle gegen die Normen verstoßen, wird der Normverstoß belangloser, als wenn alle sich daran halten. Denn je mehr man über die Verstöße der anderen weiß, umso gerechtfertigter erscheint einem sein eigenes Fehlverhalten. Wenn es öffentlich wäre, wie viel andere bei ihrer Steuererklärung tricksen, führte dies gewiss nicht zu einer besseren Steuermoral. Gemäß der Vergleichslogik wäre es wohl eher der Anfang einer mutmaßlichen Abwärtsspirale.

Es gibt immer mehr technische Sicherheitsvorkehrungen, die das Leben der Menschen bestimmen. Daher müssen sie umso weniger ihr Urteil schulen und ihr sittliches Verhalten selbst bestimmen. Richard David Precht ergänzt: „Wir halten uns nur deshalb an bestimmte Dinge, weil wir gar nicht mehr anders können, als es zu tun. Soziale Normen dagegen lassen uns die Wahl, sie zu befolgen oder gegen sie zu verstoßen. Gerade dass wir ihnen nicht folgen müssen, macht sie bedeutsam.“

Mit sich im Reinen sind nur die Doofen

Die Gültigkeit sozialer Normen besteht nicht aus Zwang, sondern aus Freiwilligkeit. Und sie sind selbst dann wichtig, wenn sich nicht jeder daran hält. Die meisten Menschen leben nämlich gut und gerne mit einer Art Unschärferelation des sozialen Lebens. Diese dient letztlich ebenso der guten Meinung, welche die Menschen voneinander haben, wie der, die man von seinem Normensystem hat. Das reale Leben verlangt auch immer wieder eine Entscheidung zwischen verschiedenen Normen.

Denn das Befolgen der einen kann einer anderen widersprechen. Diese Situation muss ein Mensch aushalten. „Mit sich im Reinen sind nur die Doofen“ – der Satz von Martin Seel gilt ebenso für Gesellschaften. Und was für die Wahrheit gilt, das gilt mithin für jede andere moralische Tugend. Man sollte sie ernst nehmen, aber nicht zu ernst. Normen sind Regeln, die das Zusammenleben der Menschen erleichtern sollen. Jede dieser Regeln soll einem Konflikt vorbeugen. Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies

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