Bernd Roeck beschreibt das Mittelalter in Europa

Nichts hat das mittelalterliche Europa tiefgreifender verändert und sein Schicksal nachhaltiger bestimmt als der Landesausbau, mit dem Ertragssteigerungen und Bevölkerungswachstum einhergingen, dazu die Ausweitung von Handel und Geldwirtschaft. Bernd Roeck ergänzt: „Der Aufschwung legte Palästen und Kathedralen die Fundamente und spülte Münzen in die Kassen der Könige. Er ließ ihre Heere größer werden, so dass sie sich imstande sahen, es mit den Kriegern des Propheten aufzunehmen.“ Er produzierte Handwerker und Konsumenten, Händler und Steuerzahler; er ermöglichte es, Schulen zu gründen, Burgen und Kirchen zu errichten. Der Mönch Radulf Glaber kommentiert: „Als das dritte Jahr nach dem Jahr 1000 herankam, wurden fast überall, aber besonders in Italien und Gallien die Kirchen erneuert.“ Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

Im 12. Jahrhundert wurde die Kathedrale geboren

In der Tat wurde gebaut und gebaut. So wuchsen der Speyrer Dom, das Pantheon der salischen Kaiser, und St. Isidoro in León, der Dom von Pisa und Venedigs San Marco empor. Auch die Sophienkathedrale in Kiew und die kleinere Schwester in Nowgorod wurden damals errichtet, wohl von byzantinischen Baumeistern. Neu war, dass sich die Architekten wieder an der alten, fast vergessenen Kunst des Wölbens versuchten. Eines der frühesten Beispiele bieten die Tonnengewölbe, die lombardische Werkmeister in der Vorhalle der Kirche St. Philibert in Tournus aufmauerten.

Im 12. Jahrhundert wurde die Kathedrale geboren. Schon machte es Umstände, im gerodeten Land geeignetes Bauholz zu finden, so im Fall des Baus der Mutter aller Kathedralen, der Abteikirche von St. Denis in der Île-de-France. Daneben feierte die Gießkunst Erneuerung. Viele Dome leisteten sich prächtige Bronzeportale. Sei belegen weitgespannte Handelsverbindungen: Die Bronzetür im masowischen Plok etwa wurde in Magdeburg gegossen. Sie gelangte später, durch Raub oder als Geschenk, nach Nowgorod.

Neue Städte entstanden und alte wuchsen

Vor allem aber nährte das neu erschlossene Land neue Städte und ließ alte wachsen. Um einen Königshof, die Villa eines Grundherrn oder ein Kloster entstanden Häuser und Hütten. Die Skelette der alten Städte der Griechen und Römer füllten sich wieder mit Menschen. Wie die Wallfahrtsstätten an der Seidenstraße erwiesen sich Pilgerorte als Keime der Urbanisierung: Beispiele biet Le Puy oder Chartres am Weg nach Santiago de Compostela. Die Habsburg im schweizerischen Aargau barg gar den Grundstein eines Imperiums.

Keimzellen von Städten wie Gent oder Brügge waren Burgen flandrischer Grafen, die von hier aus ihr Land beherrschten. Oft stand die Initiative eines Fürsten am Anfang einer Gründung. Schmiede verließen die Dörfer, um Kaufleuten ihre Klepper zu beschlagen, Zimmerleute halfen den Neubürgern beim Bau ihrer Blockhütten, Landweber suchten die Stadt und trieben ihr Geschäft dort. Um die großen Textilzentren drängte sich florierendes Landhandwerk, das die Werkstätten belieferte: Wollspinnerinnen etwa, die den Webern Fäden für ihre Tuche lieferten. Quelle: „Der Morgen der Welt“ von Bernd Roeck

Von Hans Klumbies