Die Reichsgründung von 1871 veränderte die Wahrnehmung Deutschlands in den Nachbarländern entscheidend. Außerhalb des Landes trat das Bild des gemütlichen, rückständigen Deutschen zurück, das Madame de Staël Anfang des 19. Jahrhunderts gezeichnet hatte. Andreas Rödder stellt fest: „Übrig blieben ambivalente Deutschlandbilder, die sich um deutschen Militarismus und Expansionismus einerseits und um die Leistungen deutscher Wissenschaft und Kultur andererseits gruppierten.“ Um die Jahrhundertwende setzte dann ein Prozess der zunehmenden Entdifferenzierung, Reduzierung und Pauschalisierung ein, der in eindeutig negative Wahrnehmungen mündete. Dem entsprachen auf deutscher Seite zunehmend einseitige und immer nationalistischere Selbstbilder. Beide Entwicklungen drehten sich wie zwei Spiralen ineinander, wobei der Höhepunkt mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges erreicht wurde. Seit 2005 ist Andreas Rödder Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
In Deutschland herrschte Zukunftsangst
Der Deutsch-Französische Krieg und die Reichsgründung von 1871 wurden in Deutschland als politischer und kultureller Vorzeichenwechsel verstanden, der die zweihundertjährige Vorherrschaft Frankreichs über den Kontinent gebrochen habe. Doch die Selbstwahrnehmung reichte bald weiter. „Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden“, verkündete Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1896. Das war freilich ein kühner Anspruch.
Denn die Weltreichslehre, die zu dieser Zeit einen Höhepunkt erreichte, ging von der Vorstellung aus, das bestehende Staatensystem werde ein Weltsystem mit drei bis vier dominierenden Weltreichen hervorbringen. Die USA, das Vereinigte Königreich und Russland waren sozusagen gesetzt. Blieb die große Frage: Würde Deutschland auch dabei sein? Die Frage enthielt zugleich die bohrende deutsche Sorge, zu spät zu kommen und im „Kampf ums Dasein“ zu unterliegen. Daraus resultierte einerseits Zukunftsangst und andererseits das Gefühl, ungerecht behandelt und benachteiligt zu werden.
Deutschland fühlte sich anderen Staaten gegenüber überlegen
Nahm man die „Verteilung der nichteuropäischen Welt“ als Maßstab, so ließ sich von deutscher Seite tatsächlich argumentieren, dass die anderen Mächte zweierlei Maß anlegten. Sie nahmen für sich in Anspruch, weltweit zu expandieren, was sie Deutschland wiederum nicht zubilligten. In der Selbstwahrnehmung nach dem Abgang Otto von Bismarcks strebte Deutschland aktiv nach Gleichberechtigung. Das Jahr 1897 markierte den Auftakt zur wilhelminischen Weltpolitik, in der sich ein Streben nach Gleichberechtigung und das „Gefühl des Zukurzgekommenseins“, Selbstbewusstsein und Unsicherheit mischten.
Andreas Rödder schreibt: „Vor diesem Hintergrund spitzten sich Selbst- und Fremdbilder ab der Jahrhundertwende immer mehr zu.“ In der deutschen Geschichtsschreibung, Rechtswissenschaft und Öffentlichkeit – mit Ausnahme der Sozialdemokratie und von Teilen der demokratischen Linken – verbreitete sich vor dem Jahr 1914 zunehmend die Überzeugung, das spezifisch deutsche monarchisch-konstitutionelle Verfassungssystem sei allen anderen überlegen: der russischen Autokratie und dem habsburgischen Vielvölkerstaat ebenso wie den westlichen parlamentarischen Systemen. Quelle: „Wer hat Angst vor Deutschland?“ von Andreas Rödder
Von Hans Klumbies