Der Fundamentalist erfährt sich als Mängelwesen

Jeder Fundamentalismus setzt die Regel gegen den Einzelnen, das für jeden Verbindliche gegen das Individuelle. Georg Milzner betont: „Der Fundamentalist ist damit der erklärte Feind jeder am Individuum orientierten Lebensform, jeder Selbstverwirklichung, jeglichen Strebens nach Selbst-Sein.“ Der Psychoanalytiker Martin Altmeyer spricht in seiner Analyse der Gemeinsamkeiten von Rechtsradikalismus, Linksradikalismus und politischem Islam von der „Obsession des Homogenen“, der alle diese drei Lager erliegen. Sie richtet sich, anders als etwa beim Schwarmverhalten, weniger auf die erlebte Verbundenheit in einer Masse als vielmehr auf Werte, Motive und moralische Richtlinien. Jene Bereiche also, an denen Konflikte entstehen, deren Lösung im Fundamentalismus an das feste Regelwerk delegiert wird. Hinzu kommt die Bedeutung von Vorbildern, an denen man sehen kann, wie gut gelebt wird. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

Der Fundamentalismus wird stark von Bildern und Suggestion bestimmt

Jede fundamentalistische Strömung kennt diese Personen, die mal als idealisierte Revolutionäre, mal als Heilige, mal als Meister des heiteren Verzichts oder als kampferprobte Helden des Vaterlands die innere Bühne betreten. Hier treten an die Stelle des Selbstgefühls und der Bewältigung von Herausforderungen im sozialen Miteinander plakative innere Bilder, in denen das, was ersehnt wird, in überhöhter Form dargeboten wird. Bilder, die so bindend sind, dass sie eine leichte Nachfolge ermöglichen.

Im Fall des Fundamentalismus kommen Fotos und Videos dazu, denen das künstliche Selbst nachfolgen möchte. Der Fundamentalismus wird stark von Bildern und Suggestion bestimmt. Häufige Konsumenten im Internet konvertieren sehr viel wahrscheinlicher zum Islam oder anderen fundamentalistischen Gruppen als Leute, die eher videoabstinent sind. Es leuchtet ein, dass das Anschauen von Videos etwas erheblich weniger Selbstreflexives hat als etwa das Lesen von Texten. Georg Milzner ergänzt: „Wichtiger aber sind die sichtbaren Personen, die gerade zu uns zu sprechen scheinen und mit ihrer zugewandten Autorität genau die Lücke besetzen, die die abwesenden, ihre Rolle nicht ausfüllenden Eltern klaffen ließen.“

Viele Fundamentalisten sind gescheiterte Existenzen

Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson erkannte, „dass Menschen, die in ihrem ersten Geborensein scheitern, noch einmal geboren werden wollen“. Diese bemerkenswerte Erkenntnis könnte Aufschlüsse darüber liefern, warum der Anteil sozial im Leben Gescheiterter in fundamentalistischen Gruppen so ungewöhnlich groß ist. Folgt man dieser Erkenntnis, so besteht zum Spott, den der Fundamentalismus oft erfährt, nicht länger Anlass. Herablassungen, wie etwa die Hans Magnus Enzensbergers, der im Selbstmordattentäter nur den „radikalen Verlierer“ erkennt, übersehen nämlich, dass es hier nicht nur um „loser“ geht.

Georg Milzner erläutert: „Nein, es geht in der Errichtung des fundamentalistischen künstlichen Selbst tatsächlich darum, „neu“ zu werden. Wer seine Tiefe nicht kennt und keinen Selbsthalt besitzt, der erfährt sich ja nicht als gerundete Ganzheit, sondern eher als Mangelwesen.“ Deshalb hat der Fundamentalist ein ernst zu nehmendes Bedürfnis, zu mehr vorzudringen als zu dem, was er bisher erfuhr. Das Problem ist, dass der Fundamentalist dieses „mehr“ eben nicht in sich selbst zu finden vermag. Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns selbst“ von Georg Milzner

Von Hans Klumbies