Die Welt leidet an sich selbst

Das Leiden an der Welt ist vor allem ein Leiden an sich selbst. Armin Nassehi sieht im Krisenerleben der Moderne vor allem eine Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst. Es geht hier also nicht nur um die Überforderung von handelnden Personen, von Individuen, von Menschen in einer bestehenden Gesellschaft. Es geht auch und vor allem um eine Überforderung gesellschaftlicher Handlungs-, Reaktions- und Gestaltungsmöglichkeiten. Diese haben insbesondere etwas damit zu tun, dass die Strukturen und die Form der Gesellschaft sich selbst überfordern. Die Gesellschaft nutzt ihre Eigenkomplexität zur Lösung von Problemen. Und sie stößt gleichzeitig an die Grenzen ihrer eigenen Verarbeitungskapazität. Das meint Überforderung mit sich selbst. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die Gesellschaft kann sich vollends zerstören

Diese Gesellschaft hat fast alles Wissen, fast alle Ressourcen, die meisten Mittel und auch die Gelegenheit, die großen Probleme der Welt zu lösen. Armin Nassehi nennt als Beispiele soziale Verelendung, schreiende Ungerechtigkeit, den Klimawandel und die ökologische Zerstörung. Und doch sieht es so aus, als ließen sich diese Probleme nicht lösen, obwohl es doch offenkundig möglich ist. Die Frage lautet: Wie können die Menschen, kann die Menschheit, kann die Gesellschaft so viel Leid und Problematisches zulassen, während sie die Mittel dagegen doch in der Hand zu halten scheint?

Warum streben die Handelnden nicht nach dem summum bonum, das alle besserstellen und Lösungen wahrscheinlicher machen würde? Armin Nassehi geht es dabei auch um die Frage, wie sich die moderne Gesellschaft auf selbsterzeugte Probleme einstellen kann. Selbsterzeugt meint für ihn ein Doppeltes: Es sind einerseits Probleme, die direkt der gesellschaftlichen Praxis entstammen. Die Gesellschaft kann sich vollends zerstören, weil sie selbst Waffen auf einem entsprechenden technologischen Niveau erzeugt hat, die das ermöglichen.

Soziale Ungleichheit ist nicht gottgegeben

Armin Nassehi stellt fest: „Der Klimawandel und die ökologischen Schäden sind nicht „Natur“, sondern Folge gesellschaftlicher Praktiken. Soziale Ungleichheit ist nicht gottgegeben, sondern selbstgemacht. Selbst eine Pandemie geht auf gesellschaftliche Routinen zurück.“ Selbsterzeugte Probleme kennen auch nur selbsterzeugte Lösungen. Und selbsterzeugte Lösungen kennen nur selbsterzeugte Probleme. Die radikale Immanenz der Gesellschaft ist es, die Armin Nassehi in seinem Buch „Unbehagen“ rekonstruieren will.

Was Armin Nassehi mit Unbehagen meint, ist ein Unbehagen daran, dass diese unfassbar leistungsfähige Gesellschaft so viel kann und doch so wenig tut. Der Soziologe führt das auf eine Selbstüberforderung zurück. Im Fokus steht für Armin Nassehi die Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst, die sich in krisenhaften Selbsterzählungen äußert. Die Unmöglichkeit der unmittelbaren Veränderung findet in der Gesellschaft statt – ebenso wie die Einsicht in Veränderungsdruck. Quelle: „Unbehagen“ von Armin Nassehi

Von Hans Klumbies