Die Tragödie ist die Nachahmung der Natur

Die Tragödie ist nach Aristoteles eine Untergattung innerhalb der allgemeinen Gattung der Kunst. Sie ist Mimesis, also eine Art Imitation, und zwar in seinen Augen die Nachahmung der Natur. Ágnes Heller stellt fest: „Der Begriff umfasst nicht nur Poesie oder Drama oder Malerei, sondern auch Werkzeuge für den praktischen Gebrauch. Aristoteles betont das Offensichtliche: Von der frühen Kindheit an ahmen wir immer nach. Wir können nicht aufwachsen, ohne zu imitieren.“ Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.

Das Drama entwickelt sich in Dialogen

Alle Menschen werden durch Zufall als Fremde in eine unbekannte Welt geworfen. Ihre genetischen Veranlagungen müssen sich – bis zu einem gewissen Grad – an diese Welt anpassen. Sie müssen die Sprache, den Gebrauch der Dinge, die Sitten und Gebräuche, die vorherrschenden Weltauffassungen jener Welt lernen, in die sie durch Zufall hineingeworfen wurden. Ohne die Fähigkeit zur Nachahmung könnte kein Mensch überleben. Die Kunst mobilisiert also eine der grundlegenden menschlichen Bedingungen.

Die Tragödie als Drama – wiederum nach Aristoteles – ahmt die Natur nach, indem sie Handlungen imitiert. Die wichtigsten Handlungen sind in allen Dramen Sprechakte. Das Drama entwickelt sich in Dialogen. In ähnlicher Weise wie in Dramen entwickeln sich auch in der Philosophie Handlungen in Sprechakten. Sie stehen für sich selbst, während sie im Drama Handlungen des Lebens darstellen, einführen oder reflektieren. Körperhandlungen, stumme Handlungen sind dabei eingeschlossen. In der Rede tötet man nicht, stirbt nicht, geht auch nicht weg, krönt sich selbst oder einen anderen, heiratet oder blendet sich.

Das Drama kann eine Tragödie oder eine Komödie sein

Ágnes Heller weiß: „Doch in der Philosophie geschieht alles durch Sprache, das heißt in Begriffen. Auch die Referenten, die Bezugsobjekte sind Begriffe.“ Das Drama kann eine Tragödie oder eine Komödie sein. Daher sind einige ihrer Hauptmerkmale ähnlich. Aristoteles unterscheidet Tragödie und Komödie vor allem durch die soziale und persönliche Stellung der Schauspieler, der Figuren. Die Protagonisten einer Tragödie stehen über den Zuschauern, denn sie sind größer und edler als sie.

Die Figuren der Komödie dagegen stehen unter den Zuschauern, denn sie sind vulgär, hässlich und im schlimmsten Fall wie das Publikum selbst. Aristoteles betonte, dass die Charaktere weniger wichtig seien als die Handlung. Und er meinte auch, dass der Dichter zuerst die Konfliktsituation wählt und erst dann nach mythologischen Figuren sucht, die am besten in die erfundene Rolle passen könnten. Die Figuren sollten in die Handlung eingeführt werden, nicht umgekehrt. Quelle: „Vom Ende der Geschichte“ von Ágnes Heller

Von Hans Klumbies