Fotoalben bedürfen mündlicher Erklärungen

Lange vor dem Zeitalter der sozialen Medien waren Fotos von einem selbst selten. Sie retteten einige denkwürdige Augenblicke vor dem Vergessen und schluckten die Farbe und das Licht des Lebens, das sie verkörperten. Man bewahrte sie in dicken Alben auf, die man selten durchblätterte und noch seltener herzeigte. Als wären es heilige Bücher, die man nur Eingeweihten enthüllen durfte. Emanuele Coccia erklärt: „Diese Alben enthielten normalerweise nichts Schriftliches, sondern bedurften langer mündlicher Erklärungen. Denn sich in sie zu vertiefen, bedeutete jedes Mal, eine Evidenz wiederzuentdecken, die wir lieber vergessen würden.“ Auf diesen Seiten nahm das Leben die Gestalt einer langen Parade autarker Silhouetten an, die breite dunkle Schattenkränze voneinander trennten. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Ein Fotoalbum scheint den Zeitunterschied aufzuheben

Ungeachtet der Unähnlichkeit der Gestalten fiel es mehr als leicht, sich in diesem seltsamen Defilee der Körperhüllen der Vergangenheit wiederzuerkennen. Trotzdem begleitete ein Schauer die Abfolge dieser Figuren, die sich anschickten, „ich“ anstelle des eigenen Selbst zu sagen. Das Album schien den Zeitunterschied aufzuheben und die Bilder wie in einem Polyptychon einer vielköpfigen Großfamilie auszustellen. Es verwandelte sich im Zuge einer seltsamen Dissoziation in fast eineiige Zwillinge, die ein Parallelleben zu führen schienen.

Emanuele Coccia stellt fest: „Unsere Existenz kam uns plötzlich wie eine titanische Bemühung vor, von einer Gestalt zur anderen zu wechseln, wie eine Reise der Reinkarnation in diese Körper und Situationen. Obwohl sie so weit voneinander entfernt waren wie das Insekt vom menschlichen Körper des Gregor Samsa.“ Bei anderer Gelegenheit erzeugte seine Magie eine genau entgegengesetzte Wirkung. Das Album durchzublättern, bedeutete, den Rausch der vollkommenen Gleichwertigkeit zwischen den verschiedensten Gestalten zu empfinden.

Das Leben muss eine Vielzahl von Gestalten durchlaufen

Das aktuelle Ich entpuppte sich, ohne identisch zu sein, als vollkommen gleichwertig mit dem persönlichen Ich als Kind von einem Meter Größe. Die Unterschiede sind riesig, dennoch drückt jede dieser Gestalten das gleiche Leben gleich kraftvoll aus. Diese Alben waren der exakteste Ausdruck der Koinzidenz von Leben und Metamorphose. Die Gestalt des Lebendigen im Erwachsenenalter macht viele Menschen immer noch perplex. Sie erkennen dieser Altersstufe eine Vollkommenheit und Reife zu, die sie den anderen absprechen.

Als wäre alles, was davor war, nur die Vorbereitung für diese Silhouette, die für einen Menschen bestimmt war, und alles, was danach kommt, nur Verfall und Zerstörung. Dabei ist für Emanuele Coccia nichts irriger als das. Alles Leben muss, um sich zu entfalten, eine irreduzible Vielzahl von Gestalten durchlaufen, ein ganzes Volk von Körpern. Mit denen muss es umgehen und von denen muss es sich mit derselben Leichtigkeit entledigen, wie es sein Kleid von einer Jahreszeit zur anderen wechselt. Quelle: „Metamorphosen“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies