Die Welt ist chaotisch und ständig in Aufruhr

Die Welt ist das Zuhause des Menschen. Anders als die eigene Wohnung oder Haus liegt sie aber nicht einfach reglos da. Rebekka Reinhard erklärt: „Sie ist chaotisch, wirr, ständig in Aufruhr. Diese Welt rückt uns auf die Pelle. Sie macht sich auf den Screens unserer Smartphones breit.“ Sie bedrängt die Menschen in High Definition, sobald sie die Fernbedienung zücken, laut, bunt, hektisch, intensiv, überwältigend. Die Welt lässt den Menschen nicht in Ruhe und umgekehrt ist das auch nicht der Fall. Auf allen Kanälen wird sie kommentiert, jeder hat eine Meinung über sie. Die am meisten recht haben wollen, outen sich in Zeitungen, Talkshows und sozialen Medien. Die Philosophin Rebekka Reinhard ist seit 2019 stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.

Die Welt hat viele Gesichter

Im Wettbewerb um die größtmögliche Aufmerksamkeit schwellen Sprechblasen jäh zu Monstergebilden an. Diese werden von anderen, noch gewaltigeren, gleich wieder verdrängt. Nichts bleibt, wie es ist. Die Welt hat viele Gesichter, je nach Stimmung, Kontext und Quote. Sie ist ein singulär-plurales, hyperreales Hybrid aus Fakten und Fake, Zufall und Notwendigkeit. Wie soll man sich da zurechtfinden? Wie kann man sich hier heimisch fühlen?

Die Welt ist immer anders, sie hat nicht nur vielfältige, widersprüchliche Erscheinungsformen, sie ist auch vieldeutig. Und das heißt: schwer in den Griff zu kriegen, zeitraubend, eine Zumutung. Das darf nicht sein. Es gibt doch für alles eine App! Warum hat noch niemand eine Welt-App erfunden? Eine App, die endlich Schluss mit Chaos machen würde. Eine solche App wäre die Lösung aller Probleme. Sie könnte Vielfalt, Vieldeutigkeit in Eindeutigkeit transformieren. Sie wäre so programmiert, dass sie alles eindeutig trennen könnte: wahr von falsch, echt von fake, gut von böse.

Eindeutigkeit tut gut

Da es die Welt-App nicht gibt, ist der moderne Mensch auf andere Methoden angewiesen, um seine Probleme zu lösen. Rebekka Reinhard stellt fest: „Dieser Mensch ist, genau wie die Welt selbst, unfähig, einfach reglos dazuliegen. Dieser Mensch, dessen durchgetakteter Lebensweg sich unfreiwillig in Kreisen, Ellipsen und Spiralen dreht, kann ohne Probleme und Lösungen nicht leben.“ Er braucht sie wie ein Mathematiker seine Zahlen und Formeln. Es gibt eine sehr beliebte Technik, die Welt in den Griff zu kriegen.

Sie besteht darin, ins Chaos hineinzugreifen und ein klar umrissenes, alles dominierendes Problem auszusondern. Eindeutigkeit tut gut. Deshalb sind nicht nur kollektive Aufregereien so beliebt, sondern auch Castingshows, Gameshows, Talkshows, Krimis, True-Crime-Storys. Weil hier Probleme effizient identifiziert, erklärt und beseitigt werden. Weil es dort anscheinend oder scheinbar immer eine Lösung gibt. Denn der Mensch des 21. Jahrhunderts ist zutiefst rational. Quelle: „Wach denken“ von Rebekka Reinhard

Von Hans Klumbies