Das Schicksal ist allmächtig

Zuweilen ruft das Gewissen laut, und das gute ist der bessere Ratgeber als das schlechte. Dieses schleppt sich dahin, und oft verrät sich das Gewissen aus eigenem Antrieb. In der Antike steht die moralische Schuld im Schatten des allmächtigen Schicksals. Dieses sucht den einzelnen Menschen ohne Rücksicht auf dessen Motive heim. In der Neuzeit dagegen tritt epochales Unrecht in der Regel bereits in Begleitung des Unrechtsbewusstseins auf. In Michel de Montaignes Essai sind es Überlegungen zur Folter, die das Gewissen auf den Plan rufen. Offenbar bedarf diese auch damals schon der Rechtfertigung. Erst die Folter, so lautet sie, könne die unterdrückte Stimme des Gewissens zum Klingen bringen. Michel de Montaigne (1533 – 1592) hatte mit seinen Essais schon zu Lebzeiten durchschlagenden Erfolg.

Das Gewissen hat eine unheimliche Gewalt

Das reine Gewissen dagegen, so diese Logik, halte der Marter stand. Zweifel daran und Fragen sind Michel de Montaignes einzige, allerdings unerhört moderne Argumente. Stärkere gibt es für viele bis heute nicht. Denn vertrauenswürdig Ergebnisse sind von der Folter nicht zu erwarten. Von Beweiskraft ganz zu schweigen. In einer großen Mehrzahl der Länder dieser Erde wird jedoch noch heute weiter gefoltert. Das Gewissen hat für Michel de Montaigne unheimliche Gewalt.

Michel Montaigne stellt fest: „Es macht, dass wir uns selbst verraten, anklagen und bestreiten. Und führt uns, wenn kein fremder Zeuge da ist, selbst wider uns zu Zeugen auf.“ Für Hesiodus folgt die Strafe sehr nahe auf die Sünde. Denn sie würde zugleich mit der Sünde im selben Augenblick geboren. Wer die Strafe erwartet, leidet sie, und wer sie verdient hat, erwartet sie. Die Bosheit bereitet sich selbst Martern. Wenn man ein Vergnügen an einem Laster findet, entsteht ein entgegengesetztes Missvergnügen im Gewissen.

Die Folter ist eine gefährliche Erfindung

Das Gewissen martert einen Menschen mit vielerlei beschwerlichen Einbildungen, egal ob man wach ist oder schläft. Kein Schlupfwinkel hilft den Bösen etwas, sagt Epikur, weil sie sich nicht versichern können, dass sie verborgen sind, da sie ihr Gewissen selbst entdeckt. Gleichwie das Gewissen die Menschen mit Furcht erfüllt, so enthüllt es ihnen ebenfalls Zuversicht und Vertrauen. Michel de Montaigne sagt, dass er bei verschiedenen gefährlichen Gängen weit beherzter vorangegangen ist, weil er insgeheim von seinem guten Willen und der Unschuld seiner Absichten überzeugt war.

Die Folter ist für Michel de Montaigne eine gefährliche Erfindung und scheint mehr ein Mittel zu sein, die Geduld, als die Wahrheit zu prüfen. Derjenige, welcher sie ausstehen kann, verbirgt die Wahrheit ebenso wohl als derjenige, der sie nicht aushalten kann. Bei dem Schuldigen scheint es, auf der Folter dazu zu helfen, dass er sein Verbrechen bekennt, und ihn schwach zu machen. Gegenteils aber scheint es den Unschuldigen wider die Tortur zu stärken. Um die Wahrheit zu sagen, so ist die Folter sehr ungewiss und gefährlich. Quelle: „Handbuch der Menschenkenntnis“ von Georg Brunold (Hg.)

Von Hans Klumbies