In den vergangenen fünfhundert Jahren hat die Menschheit eine schwindelerregende Abfolge von Revolutionen erlebt. Die Erde wuchs während dieser Zeit zu einer einzigen ökologischen und historischen Sphäre zusammen. Yuval Noah Harari ergänzt: „Die Wirtschaft wuchs exponentiell und die Menschheit genießt heue einen Reichtum, wie man ihn früher nur aus dem Märchen kannte. Die Wissenschaften und die Industrielle Revolution haben uns übermenschliche Kräfte und nahezu grenzenlose Energie verliehen.“ Die Gesellschaftsordnungen, die Politik, der Alltag und die menschliche Psyche – überall fanden gravierende Veränderungen statt. Aber sind die Menschen heute deswegen glücklicher? Die meisten Ideologien und politischen Programme haben sehr unausgegorene Vorstellungen vom menschlichen Glück. Nationalisten behaupten zum Beispiel, die politische Selbstbestimmung sei der Schlüssel zum menschlichen Glück. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.
Der Mensch hat im Laufe der Geschichte immer mehr Fähigkeiten erworben
Die Kommunisten dagegen erklären, die Diktatur des Proletariats beschere das Paradies auf Erden. Die Kapitalisten wiederholen ständig die Behauptung, dass nur die Marktwirtschaft das größte Glück der größtmöglichen Zahl garantieren könne. Aber obwohl bislang niemand die Geschichte des Glücks erforscht hat, haben viele Forscher und Laien bestimmten Vorstellungen davon. Yuval Noah Harari erklärt: „Zum Beispiel hat einer verbreiteten Ansicht zufolge der Mensch im Laufe der Geschichte immer mehr Fähigkeiten erworben.“
Und da die Menschen ihr Können dazu nutzen, um Elend zu beseitigen und ihre Träume zu verwirklichen, müssen sie folglich heute glücklicher sein als ihre Vorfahren im Mittelalter, und diese wiederum müssen glücklicher gewesen sein als die Jäger und Sammler der Steinzeit. Doch dieser Fortschrittsglaube überzeugt Yuval Noah Harari nicht. Denn seiner Meinung nach bedeuten neue Fähigkeiten und Verhaltensweisen noch lange kein besseres Leben. Als die Menschen während der landwirtschaftlichen Revolution lernten, die Umwelt nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, verschlechterte sich das Leben der Einzelnen erheblich.
Früher hat es keinen Zusammenhang zwischen Fortschritt und Glück gegeben
Yuval Noah Harari erläutert: „Die Bauern mussten mehr arbeiten als die Jäger und Sammler, während sie sich gleichzeitig schlechter ernährten und unter Krankheit und Ausbeutung litten.“ Angesichts der langen Geschichte des Machtmissbrauchs durch die Menschen wäre es naiv zu glauben, dass Fortschritt die Menschen automatisch glücklicher macht. Zivilisationskritiker behaupten daher das genaue Gegenteil: „Fortschritt führt ins Unglück. Macht korrumpiert.“ Mit ihren Erfindungen hat sich die Menschheit eine kalte und mechanistische Welt erschaffen, die den menschlichen Bedürfnissen nicht mehr entspricht.
In einer Jahrmillionen langen Evolution haben sich die Menschen körperlich und seelisch perfekt an das Leben als Jäger und Sammler angepasst. Der Übergang zur Landwirtschaft und später zur Industrie hat den Menschen einen Lebensstil aufgezwungen, der ihre Instinkte knebelt und ihre eigentlichen Bedürfnisse nicht mehr befriedigt. Mit jeder neuen Erfindung entfernt sich die Menschheit immer weiter vom Garten Eden. Wer die ganze Angelegenheit etwas ausgewogener betrachtet, könnte zu dem Schluss gelangen, dass es vor der wissenschaftlichen Revolution vermutlich tatsächlich keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Fortschritt und Glück gegeben hat.
Von Hans Klumbies